Schulstart: „Die Coronakrise zeigt, wie abhängig gute Bildung vom Elternhaus ist.“
imago images/Michael Weber
Sie gehen in die elfte Klasse eines Gymnasiums in Duisburg. Nun liegen wegen Corona bereits sechs Wochen „Homeschooling“ hinter Ihnen. Wir war es bisher?
Ich selbst komme gut mit dem Unterricht zuhause klar und werde gut von meinen Lehrer*innen unterstützt. Aus Berichten von Freund*innen von anderen Schulen weiß ich allerdings, dass das keine Selbstverständlichkeit ist und die Qualität des Unterrichts sehr davon abhängt, wie die Schulen, aber auch die Schüler*innen ausgestattet sind.
Nach dann sieben Wochen Corona-Zwangspause sollen ab Anfang Mai die Schulen stufenweise wieder geöffnet werden. Wie fühlen Sie sich dabei?
Meine Gefühle sind sehr gemischt. Ich halte es schon für sinnvoll, dass die Schulen langsam und schrittweise wieder geöffnet werden, sofern der Infektionsschutz sichergestellt ist. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Zeit wirklich ausgereicht hat, die Schulen und auch die Lehrer*innen auf eine Schulöffnung vernünftig vorzubereiten. Bei uns in Nordrhein-Westfalen z.B. hat die Landesregierung den Schulen nur wenige Tage Zeit zur Vorbereitung gegeben, bis die ersten Schüler*innen Ende April wieder vor der Tür standen. Das hat auch die Kommunen vor riesige Herausforderungen gestellt.
In Nordrhein-Westfalen, wie in vielen anderen Bundesländern auch, wurden die Schulen in der vergangenen Woche zunächst nur für Schüler*innen geöffnet, die bald ihren Abschluss machen. Eine gute Entscheidung?
Nein, diesen Schritt halte ich für falsch. Die letzten Wochen waren für viele Schüler*innen sehr belastend. Die Schulen sollten sie deshalb unterstützen und die Notbetreuung deutlich ausweiten. Viele haben nicht die Möglichkeit, vernünftig zuhause zu lernen, weil die technischen Voraussetzungen fehlen, sie keinen Rückzugsraum haben, in dem sie in Ruhe ihre Aufgaben bearbeiten können oder sie schlichtweg keine warme Mahlzeit bekommen. All denen muss die Schule einen Ort geben, an dem sie sich wohlfühlen und sie unterstützt werden. Die Coronakrise zeigt einmal mehr, wie abhängig gute Bildung vom Elternhaus ist.
Inwiefern?
Das Einkommen der Eltern entscheidet massiv darüber, ob Schüler*innen gut lernen und sich ausreichend auf Prüfungen vorbereiten können. Das fängt damit an, ob sie ein eigenes Zimmer haben, in dem sie in Ruhe arbeiten können, oder ob sie sich einen Computer mit mehreren Geschwistern teilen müssen. Es gab den Fall eines Schülers, der konnte die Aufgaben, die ihm sein Lehrer gegeben hatte, nicht bearbeiten, weil das Datenvolumen seines Handys aufgebraucht war und die Eltern keinen Internetanschluss hatten.
Sie gehen in Nordrhein-Westfalen zur Schule. Ministerpräsident Armin Laschet haben Sie gerade vorgeworfen, er stelle Schüler*innen mit der Schulöffnung für Abschlussklassen vor einen moralischen Konflikt. Wie meinen Sie das?
Die Teilnahme an der Abiturvorbereitung ist für die Schüler*innen freiwillig. Dadurch stehen sie vor dem moralischen Konflikt zwischen einer besseren Abiturvorbereitung und der Gefahr, sich und andere zu infizieren, wenn sie in die Schule gehen. Und es gibt ja auch Schüler*innen, die selbst zur Risikogruppe gehören. Die nordrheinwestfälische Landesregierung nimmt in Kauf, dass sie nicht an der Abschlussvorbereitung teilnehmen können. Diese Faktoren gegeneinander abwägen zu müssen, ist für viele ein Dilemma. Ich finde, so etwas kann Herr Laschet den Schüler*innen nicht zumuten. Niemand sollte sich vorsätzlich in Gefahr begeben müssen. Das Gleiche gilt auch für die Abschlussklassen in der 10. Klasse. Deren Abschlussvorbereitung ist nicht freiwillig, sondern verpflichtend. Der Ausschluss oder die Gefährdung der Schüler*innen mit Vorerkrankungen oder Risikogruppen im Haushalt wird dort ebenfalls in Kauf genommen.
Ausgehend von Nordrhein-Westfalen gibt es mittlerweile im ganzen Land eine Bewegung von Schüler*innen, die dazu aufrufen, den Unterricht zu boykottieren. Halten Sie diesen „Schulstreik“ für sinnvoll?
Die Politik sollte die berechtigten Ängste der Schüler*innen ernst nehmen und den Dialog suchen. In Nordrhein-Westfalen werden die Sorgen und Nöte von Schüler*innen seitens der Landesregierung ignoriert. Auch die Hilferufe der Schulen und der Kommunen in Form des Städtetags NRW, die um mehr Zeit vor den Öffnungen gebeten haben, stoßen auf taube Ohren. Ein sogenannter Schulstreik ist deshalb aus meiner Sicht eine legitime Form des Protests, um auf unsere schwierige Situation aufmerksam zu machen. Welche Wirkung das hat, wird sich zeigen.
Anfang Mai sollen die Schulen schrittweise im gesamten Bundesgebiet wieder öffnen. Was ist dabei aus Sicht der Schüler*innen wichtig?
An erster Stelle steht für uns der Infektionsschutz. Schüler*innen und Lehrer*innen sollte keinen unkalkulierbaren Risiko ausgesetzt werden. Deshalb müssen hygienische Missstände in den Schulen möglichst schnell behoben werden. Bei all dem sollte der Ausfall von Lehrpersonal eingeplant werden, weil sie zur Risikogruppe gehören, Angehörige pflegen oder sich im schlimmsten Fall selbst infiziert haben. Da muss für ausreichend Ersatz gesorgt werden, um erwartbare Ausfälle – gerade was Lehrer*innen über 60 oder andere Risikogruppen angeht – frühzeitig auszugleichen. Ganz wichtig ist auch, den ausgefallenen Stoff der vergangenen Wochen in der Schule nochmal vernünftig aufzuarbeiten, denn nicht alle Schüler*innen konnten ihn gleich gut bearbeiten. Klar ist: Aus Corona darf niemandem ein Nachteil entstehen.
Würde es helfen, wenn das Sitzenbleiben – zumindest zeitlich begrenzt – abgeschafft wird?
Auf jeden Fall! Niemand darf wegen Corona sitzenbleiben bzw. weil sie oder er nicht die gleichen Möglichkeiten hatte, zuhause so zu lernen wie die Mitschüler*innen. Wichtig ist dabei aber, das Sitzenbleiben nicht nur für dieses Jahr auszusetzen, sondern sich auch Gedanken für die nächsten Jahre zu machen. Viele Lehrinhalte bauen ja direkt aufeinander auf.
In vielen Bundesländern fordern die Abiturient*innen, dass keine Abschlussprüfungen stattfinden sollen, sondern die Noten aus dem bisher erbrachten Leistungen berechnet werden. Was halten Sie von einem solchen „Durchschnittsabitur“?
Prüfungen dürfen nicht um jeden Preis stattfinden. Die Gesundheit der Schüler*innen geht in jedem Fall vor. Um das zu gewährleisten, können Durchschnittsabschlüsse ohne gesonderte Prüfungen eine Möglichkeit sein. Wenn Prüfungen stattfinden, müssen dabei in jedem Fall die unterschiedlichen Vorbereitungsvoraussetzungen der Schüler*innen berücksichtigt werden. Die Entscheidung über Abschlüsse und ihre Form muss immer zum Wohl der Schüler*innen geschehen. Am schlimmsten wäre, wenn in diesem Jahr gar keine Abschlüsse vergeben würden. Alle Schüler*innen in den Abschlussjahrgängen müssen am Ende des Schuljahrs ein Abschlusszeugnis in der Hand haben.
Youtuber „Rezo“ hat vor kurzem ein Video veröffentlicht, in dem er den Politiker*innen vorwirft, sie würden auf die Schüler*innen in Deutschland „scheißen“ und seien „krass inkompetent“. Spricht er euch damit aus der Seele?
Die Corona-Zeit geht sicher an kaum einer Schülerin und kaum einem Schüler spurlos vorbei. Insofern spricht Rezo in seinem Video schon die Ängste und Nöte an, die viele Schüler*innen gerade bewegen. Seine Kritik an der Politik finde ich allerdings viel zu pauschal. Es gibt schon Politiker*innen, die die Schüler*innen ernst nehmen und das Gespräch mit ihnen suchen, wie zum Beispiel die SPD-Fraktion des nordrhein-westfälischen Landtags. Die Fraktion streamt regelmäßig mit Landesschüler*innenvertretungen, sucht aktiv den Dialog. Zu den Politiker*innen, die den Schüler*innen zuhören und sie ernst nehmen, gehört die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen unter Armin Laschet allerdings nicht.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.