Sachsen kann auch anders: Wie Flüchtlinge zu Nachbarn werden
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Bürgerversammlung, Blockade, Widerstand – die Schlagworte klingen vertraut, gerade aus Sachsen. Gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte, Blockaden bei der Ankunft hilfesuchender Menschen, offene und häufig auch unwidersprochene Hetze - all das hat sich in Sachsen zuletzt wiederholt abgespielt. Schaden nahm nicht nur der Ruf des Freistaats, auch die Würde der Betroffenen trug tiefe Narben davon.
Königshain-Wiederau: „Unsere Jungs“ bleiben hier
Nicht so in Königshain-Wiederau: In der knapp 70 Kilometer westlich von Dresden gelegenen Gemeinde gab es zwar ebenfalls Bürgerversammlungen und Widerstand, wurden Blockaden angedroht, allerdings für und eben nicht gegen die im Ort untergebrachten Flüchtlinge. „Als die Notunterkunft geräumt werden sollte, formierte sich Widerstand. Notfalls sollte die Räumung blockiert werden“, erinnert sich Bernd Merkel, einer der ehrenamtlichen Helfer, an die „heiße Zeit“ in Königshain-Wiederau.
Aber langsam. Angefangen hatte die Geschichte deutlich früher, irgendwann im Herbst 2015. Damals informierte der Landkreis Mittelsachsen darüber, dass vor Ort Flüchtlinge untergebracht werden sollten. Statt abzuwarten und anderen das Handeln zu überlassen, reagierten Bürgermeister und Gemeinde sofort. Gemeinderäte, die Landärztin, Vertreter von Feuerwehr und Sportvereinen und engagierte Bürger, alle kamen zusammen und diskutierten, wie sich die Gemeinde auf die Ankunft der Flüchtlinge vorbereiten könnte. Der Helferkreis war gegründet und stand bereit, als die knapp 60 Flüchtlinge am 22. Dezember 2015 tatsächlich in Königshain-Wiederau ankamen.
Deal zwischen Helfern und Landrat
Zwar hausten diese mehr schlecht als recht in beheizten Zelten, die Fürsorge der Helfer jedoch wog das auf. Über Deutschkurse, gemeinsame Aktivitäten und den persönlichen Kontakt entstanden Bindungen, die selbst skeptische Zeitgenossen zum Helfen animierten. Flüchtlinge, Asylbewerber, Asylanten, in Königshain-Wiederau wurden sie binnen Wochen zu „unseren Jungs“, erklärt Bernd Merkel.
Umso größer der Schock, als Mitte März die Ankündigung der Auflösung des Notlagers die Runde machte. Gegen die geplante „Umverteilung ihrer Jungs“ liefen die zwischenzeitlich knapp 150 Helfer Sturm, erinnert sich Merkel. Statt einer Blockade fand sich jedoch eine etwas weniger radikale, dafür aber weit nachhaltigere Lösung: Die Flüchtlinge wurden privat untergebracht, in Wohnungen und Eigenheimen der ehrenamtlich Engagierten. „Ich hatte kaum begonnen ernsthaft darüber nachzudenken, da hatte meine Frau schon den Arm gehoben“, so Merkel. Nach einer hitzigen Debatte mit dem extra nach Königshain-Wiederau geeiltem Landrat wurde der Deal vereinbart, binnen sechs Wochen Wohnungen für die Flüchtlinge zu organisieren und so einen geordneten Leerzug der Notunterkunft zu ermöglichen.
Das „menschliche Wunder“
Der Plan ging auf. Wenn auch über Umwege und am Ende vor allem dank der tatkräftigen Unterstützung durch die umliegenden Kirchgemeinden konnten alle Flüchtlinge mit Wohnraum versorgt werden. Die allermeisten von ihnen leben nun in Wohngemeinschaften, die größte davon mit acht Personen in einer alten Pfarrwohnung in Königshain-Wiederau.
Zwar ist die Nothilfe Geschichte, das ehrenamtliche Engagement der Helfer jedoch geht weiter. Deutschkurse finden statt, gemeinsame Veranstaltungen werden organisiert, persönliche Patenschaften helfen den Flüchtlingen bei der Suche nach Arbeit oder Praktikumsstellen. „Menschlich hat sich durch den Zuzug der Flüchtlinge sehr viel Positives getan.“ Bürger, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, zogen plötzlich an einem Strang, weiß Merkel zu berichten. Und selbst jene, die anfangs mindestens skeptisch waren angesichts der Neuankömmlinge in ihrer Gemeinde, brachten sich helfend ein. „Was hier passiert ist, gleicht einem menschlichen Wunder“, erklärt Bernd Merkel.
Ein Wunder, das nur Gewinner kennt: Engagierte Bürger, die der viel zitierten Mitmenschlichkeit wieder Inhalt verliehen haben und dadurch zusammengewachsen sind. Flüchtlinge, die in Königshain-Wiederau zunächst zu „unseren Jungs“ und schließlich zu Nachbarn wurden. Mitten in Sachsen.