Roma-Schule Amaro Kher: Kinder stark machen fürs Leben
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„Die Kinder in die Schule zu kriegen, ist unser größtes Problem“, sagt Sabine Ludwig. Es klingt nicht frustriert, nicht anklagend – sondern einfach sachlich. Ludwig steht in einem Klassenraum, hinter ihr an der Wand hängen Basteleien, Bilder, Fotos. Ein buntes, fröhliches Durcheinander. Die Stühle sind auf die Tische gestellt, der Unterricht ist für heute beendet. Ludwig leitet in Elternzeitvertretung die Kölner Amaro Kher-Schule im Stadtteil Neustadt Nord. Hier werden Roma-Kinder auf den normalen Alltag in deutschen Regelschulen vorbereitet. In diesem Sinne ist Amaro Kher tatsächlich die Ausnahme. „Manchmal stehe ich morgens bei den Familien vor der Tür und frage, warum ihre Kinder nicht in der Schule sind“, berichtet Sabine Ludwig. „Das kann ich natürlich nur machen, weil das hier ein Sonderprojekt mit einer kleinen Schülerschaft ist.“
Unstabile und schwierige Familienverhältnisse
24 Schülerinnen und Schüler besuchen Amaro Kher, aufgeteilt in zwei Klassen für 6 bis 8-Jährige und für 9 bis 13-Jährige. Seit 2004 wird die Schule im Auftrag des Landes NRW und der Stadt Köln vom Verein Rom e.V. betrieben, der sich schon seit 30 Jahren für die Menschen- und Bürgerrechte von Sinti und Roma einsetzt. In die Schule kommen Kinder aus überwiegend unstabilen und schwierigen Familienverhältnissen, sie leiden unter schlechten Wohnbedingungen und fehlender gesellschaftlicher Integration. Einige der Kinder sind durch Erlebnisse in ihrer Heimat – u.a. der Kosovo, Mazedonien und Serbien – traumatisiert, denn dort werden Roma gesellschaftlich ausgegrenzt und diskriminiert. Viele Roma kommen als Flüchtlinge nach Deutschland, leben hier in Heimen und sind so wieder „die Anderen“.
„Viele Kinder haben noch nie eine Schule besucht“, erklärt Sabine Ludwig. Da die Eltern selber nie zur Schule gegangen seien, kämen sie gar nicht auf die Idee, ihre Kinder dorthin zu schicken. Das ist auch einer der Gründe, weshalb manche Kinder eines Tages einfach nicht mehr in der Schule auftauchen. Trotzdem: Das sind eher die Ausnahmen. Ein bis zwei Jahre bleiben die Kinder in der Regel bei Amaro Kher, dann wechseln sie auf eine reguläre Schule. Begleitet werden sie dabei von einem Paten, der ihnen den Übergang erleichtern soll. Bei denen fragt Sabine Ludwig dann auch mal nach, ob „ihre“ Kinder denn zur Geburtstagsparty von Mitschülern eingeladen werden: „Das soll keine Schuldfrage sein von wegen: Die müssen eingeladen werden! Aber solche Dinge sind schon wichtig.“
Lernen fürs Leben
Der Tagesablauf ist bei Amaro Kher immer der gleiche – schließlich sollen sich die Kinder an feste Strukturen gewöhnen, von zu Hause aus kennen sie das eher nicht. Von montags bis freitags kommen die Kinder zwischen 8 und 8.30 Uhr in die Schule. Die Jüngeren werden mit Bussen abgeholt, die Älteren kommen selbstständig. Bis kurz nach 9 Uhr werden die Kinder vom Frühdienst betreut, dann gibt es Frühstück. Bei vielen Kindern, so Sabine Ludwig, sei nicht klar, ob sie zu Hause überhaupt Frühstück bekämen. Von 9.30 bis 11 Uhr und von 11.30 bis 13 Uhr findet der Unterricht statt. „Das darf man sich nicht vorstellen wie normalen Unterricht“, sagt Ludwig: „Es gibt individuelle Förderpläne für jedes Kind“. Unterrichtet werden die Kinder auf Deutsch und in ihrer Muttersprache Romanes. Das Sprachniveau der Kinder, so Ludwig, sei sehr unterschiedlich: Die Kinder, die vorher schon die Amaro Kher-Kita besucht hätten, sprächen deutlich besser als die anderen. Nach dem gemeinsamen Mittagessen um 13 Uhr bietet Amaro Kher den Schülerinnen und Schülern verschiedene AGs an, zum Beispiel Nähen, Tanzen und Gärtnern. Auch eine Mädchen-AG gibt es: „Die pubertierenden Mädchen brauchen einen geschützten Raum, wo sie Dinge auch einfach mal erzählen können“, erklärt Sabine Ludwig.
In der Küche steht Jutta Roth. Die 77-Jährige ist seit neun Jahren als Freiwillige dabei und leitet die Garten-AG. Heute aber backt sie mit den Kindern Waffeln – im Winter gibt es nicht so viel zu gärtnern. Die 10-jährige Mathilda lässt sorgfältig Teig in das Waffeleisen tropfen, Roth erklärt derweil die Küchenregeln: „Man muss eine Schürze anziehen, die Hände waschen, Zuhören, nicht Naschen und Aufräumen.“ Sie wirft einen Blick auf den 9-jährigen Imrija, der sich nun auch am Waffeleisen versucht: „Imrija hat sich sehr gemacht, der war am Anfang sehr zappelig. Die Kinder lernen hier so viel, zum Beispiel, dass man sich nicht auf das Essen stürzt wie ein Wolf.“ In einem anderen Raum sitzt der 13-jährige Leo an einem Tisch, ganz ruhig und konzentriert malt er mit farbigen Stiften ein Muster aus. Sein Mitschüler Omer (11) tobt derweil durch den Klassenraum. Auch hier ist eine Betreuerin immer in der Nähe, hat die Kinder im Blick und greift ein, wenn Omer es zu wild treibt.
Auswirkungen der Flüchtlingskrise
Aufmerksamkeit ist bei Amaro Kher ein wichtiges Gut, denn davon erhalten die Kinder zu Hause viel zu wenig. Viele haben mehrere Geschwister, sind es gewohnt, sich alleine zu beschäftigen. In der Schule kümmert man sich um sie. Hier werden sie akzeptiert, werden nicht als „Problem“ betrachtet – auf Romanes bedeutet Amaro Kher „Unser Haus“. Ingrid Welke, Geschäftsführerin von Rom e.V., erinnert sich: „2002 gab es diese Schlagzeile im Kölner Express: Die Klau-Kids von Köln“. Dazu druckte der Express dutzende Roma-Kinder auf die Titelseite und behauptete, diese seien jährlich für 100.000 Straftaten verantwortlich. „Als das Schulprojekt Amaro Kher startete, kamen auch viele Kinder, die als Klau-Kinder abgestempelt wurden“, sagt Welke. Sich gegen solche Stigmatisierung zu wehren, fällt den Kindern schwer – genauso wie ihren Eltern. Nicht nur, aber auch deshalb ist Elternarbeit für Amaro Kher so wichtig. Sabine Ludwig betrachtet das Ganze nüchtern: „Das ist eine Sisyphus-Arbeit. Wir leisten viel Hilfe, hören viel zu. Wir haben auch Aktionstage, an denen wir mit den Eltern zusammen was machen. Man muss immer wieder Gespräche führen, überzeugen. Wichtig ist, dass die Eltern sich angesprochen fühlen.“ Und dass sie das Gefühl haben, jemanden ansprechen zu können.
Die aktuelle sogenannte „Flüchtlingskrise“ geht an Amaro Kher natürlich nicht spurlos vorbei. Für Roma, so Ingrid Welke, sei es schon immer nahezu aussichtslos gewesen, in Deutschland ein Bleiberecht zu bekommen. Nun bekämen sie noch stärker die Auswirkungen des neuen Asylgesetzes zu spüren: Es kämen kaum noch neue Roma-Familien in Köln an und die, die schon da seien, würden schneller abgeschoben. „Es ist kein Ausweg in Sicht“, lautet Welkes Bilanz. Bisher habe es eine inoffizielle Absprache zwischen Amaro Kher und der Ausländerbehörde gegeben, dass Familien, deren Kinder die Schule besuchen, nicht so schnell abgeschoben werden. Diese Absprache ist jetzt nichtig. Ingrid Welke seufzt. „Wenn man jetzt in den Balkan abgeschoben wird, kommt man dank des neuen Asylgesetzes so schnell nicht wieder heraus. Es gibt keine Rettungsmöglichkeiten. Also gehen viele Familien hier den Weg der freiwilligen Ausreise. Freiwillig ist die natürlich nicht, aber es gibt ein bisschen Geld und keinen Vermerk im Pass, wenn jemand illegal eingereist ist.“ Die mit Rom e.V. kooperierenden Sozialberatungen können für die Roma-Familien nichts tun: „Die helfen gerade nur beim Kofferpacken.“
Waffeln und Schokolade
Jutta Roth und die Kinder sind mittlerweile an den Esstisch umgezogen, wo die Waffeln viel schneller gegessen werden als es gedauert hat, sie zu backen. Auch Omer und Leo haben sich dazugesellt, Leo hat sogar noch in der Küche mitgeholfen. „Leo wird Küchenazubi, der hat alles sorgfältig gemacht“, lobt Roth und verteilt Oster-Schokolade an ihre Schützlinge. An den Wänden des Essraums hängt die „Ahnengalerie“, wie Sabine Ludwig sie nennt: gerahmte Fotos von ehemaligen und aktuellen Schülerinnen und Schülern. Manche Kinder posieren selbstbewusst, andere gucken schüchtern. Ein Vorwurf, den Amaro Kher oft zu hören bekommt ist, dass die Kinder dort in Watte gepackt werden, dass die Schule mit der Realität nichts zu tun hat. Sabine Ludwig lässt ihren Blick über die Kinder streifen, die friedlich Waffelherzen essen. „Unser Ziel ist es, sie stark zu machen“, sagt sie. „Wir sagen ihnen, egal was kommt, das ist nicht schlimm. Ihr schafft das.“
Hinweis: Dieser Artikel wurde am 03.04.2016 geändert. Wo vorher von Sinti und Roma die Rede war, ist jetzt nur noch von Roma die Rede, da die aus Ost- und Südeuropa nach Deutschland auswandernden Menschen Roma sind, keine Sinti. Sinti bezeichnet die in West- und Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit.