Inland

Rettet den Feierabend – wo flexible Arbeitszeiten an Grenzen stoßen

Arbeitgeberverbände und FDP wollen den Arbeitsschutz aufweichen und nennen es Flexibilisierung. Doch eine Untersuchung zeigt, dass schon heute viele Beschäftigte nach der Arbeit zu müde für Familie und Privates sind. Wer geht vor – Markt, Kunde oder Mensch?
von Vera Rosigkeit · 15. November 2017

Flexible Arbeitszeiten – die Forderung von Arbeitgeberseite ist nicht neu, aktuell aber Thema, nachdem sich vergangene Woche der Vorsitzende der „Wirtschaftsweisen“ Christoph Schmidt für eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes aussprach. Die FDP zog nach, will in die derzeit laufenden Jamaika-Sondierungsgespräche eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes einbringen, u.a. soll der Acht-Stunden-Tag weg, weil er nicht mehr zeitgemäß sei.

Zu müde für Privates

Doch „nicht alles was modern scheint, bringt uns weiter“, sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann am Mittwoch in Berlin. Die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des „DGB-Index Gute Arbeit 2017“ zeigten deutlich, „ein Arbeitstag mit Grenzen macht es Beschäftigten leichter, Privates und Arbeit miteinander zu vereinbaren. Danach gaben 41 Prozent der Befragten an, aufgrund hoher Arbeitsbelastung zu erschöpft zu sein, um sich noch um familiäre oder private Angelegenheiten zu kümmern.

Besonders hoch seien die Werte im Sozial- und Gesundheitswesen sowie im Gastgewerbe. Neben psychisch belastenden Arbeitsbedingungen (geringe Wertschätzung, Arbeitsplatzunsicherheit) seien unsoziale Arbeitszeiten (nachts, am Wochenende oder auf Abruf) und überlange Arbeitszeiten Hauptursache für „erschöpfungsbedingte Vereinbarkeitsprobleme“, so Hoffmann. 1,8 Milliarden Überstunden in 2016, davon eine Milliarde unbezahlt – schon lange gebe es eine Fülle an Möglichkeiten für flexible Arbeitszeiten, fügt der DGB-Chef hinzu.

Arbeitszeit neu denken

Dabei müsse Arbeitszeit neu gedacht werden, erklärt IG Metall Chef Jörg Hofmann. Denn: „Arbeitszeitmodelle dürfen nicht alleine Arbeitgeberinteressen erfüllen“, fügt er hinzu. Modernes Wirtschaften müsse den Menschen in den Mittelpunkt rücken. Als Beispiel nennt Hofmann die Forderungen der bevorstehenden Tarifverhandlungen der IG Metall. Darin streitet die größte Einzelgewerkschaft Europas nicht nur für mehr Lohn, sondern auch für das verbriefte Recht, die Arbeitszeit für die Dauer von zwei Jahren auf eine 28-Stunden-Woche verkürzen zu dürfen. „Wir möchten Vollzeit anders definieren und sie für alle ermöglichen, denn Lebenslagen lassen sich nicht nach Einkommen definieren“, sagt Hofmann.

Auch 2017 ist die Verteilung der anfallenden „Sorgearbeit“ unter den Geschlechtern unterschiedlich verteilt. 37,5 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Deutschland arbeiten in Teilzeit, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Home-Office oder mobiles Arbeiten sei nicht zwangsläufig eine Lösung, weiß Michaela Rosenberger, Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Denn „Flexibilisierung und Entgrenzung ist kein Selbstläufer, zuweilen sogar Gegenteil von Selbstbestimmung“, erklärt die NGG-Chefin.

Arbeitsschutz veraltert nicht

Bei den Beschäftigten ihrer Branche liege die Erschöpfungsquote bei 51 Prozent. Und gerade hier macht die Arbeitgeberseite, allen voran der Bundesverband der Deutschen Hotel- und Gaststättenverband weiter Druck. Schon im März forderte der DEHOGA eine Umstellung von einer täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit. Arbeiten, wenn die Arbeit anfällt, so die Devise. Der Verband verschweige, dass die Möglichkeit mit Hilfe von Aushilfen und Leiharbeitern Spitzen abzudecken, bereits heute in großem Umfang gegeben sei. „Unser Tarifvertrag ist in hohem Maß flexibel“, so Rosenberger. Auch deshalb habe die aktuelle Diskussion um die Flexibilisierung der Arbeitszeit ein großes Propagandapotential und nicht wenige Politiker, die sich derzeit um Regierungsbildung bemühten, fielen darauf herein. Dabei suche der Verband lediglich eine kurzfristige Antwort auf seinen Beschäftigtenmangel zu finden. Die Abbrecherquote in dieser Branche sei nach wie vor auf hohem Niveau.

Aus Sicht der Gewerkschaften ist klar: Wer Fachkräfte brauche, müsse Arbeitszeitmodelle anbieten, die für alle, auch für Frauen machbar sind, die Vereinbarkeit ermöglichen und nicht zu Lasten der Gesundheit gehen. Dazu zähle im Übrigen auch, dass Rückkehrrecht in Vollzeit, das von der Union in der vergangenen Legislatur verhindert wurde. Dagegen werde eine einseitige Ausrichtung der Arbeitszeit an den Kunden oder Markt den Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht. Die Mehrheit der Befragten wünsche sich einen Arbeitstag von nicht mehr als acht Stunden, knapp die Hälfte mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung der Arbeitszeit. „Arbeitsschutz veraltert nicht“, so der Tenor der Gewerkschaften. In Richtung Arbeitgeber warnen sie: „Hände weg vom Arbeitszeitgesetz.“

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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