Rente mit 68: „Die CDU agiert nicht sozial.“
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Am Mittwochabend haben Sie gemeinsam in Berlin-Spandau mit Bürger*innen über „Seniorenpolitik nach Corona“ gesprochen. Was bewegt die Menschen dort?
Lothar Binding: Ein wichtiges Thema war die Rente und zwar in Verknüpfung mit der eigenen Arbeitssituation. Diejenigen, die heute niedrige Renten erhalten, haben ja häufig entweder unterbrochene Erwerbsbiografien oder wegen Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen weniger in die Rentenkasse einbezahlt oder sie waren lange Zeit prekär beschäftigt. Niedrige Löhne heute bedeuten morgen niedrige Renten. Oder andersrum gesagt: Wer heute ordentliche Löhne zahlt, sichert heute auskömmliche Renten und in Zukunft ordentliche Rentenansprüche. Eine Erhöhung des Mindestlohns auf mindestens zwölf Euro wie es die SPD will, ist also auch ein Rentenstabilisierungsprogramm.
Raed Saleh: Corona bereitet gerade den älteren Menschen in unserem Land große Sorgen. Gerade in den Altersgruppen über 60 Jahren – und damit meist Rentnerinnen und Rentnern – hat sich die Pandemie als besonders gefährlich erwiesen. Das macht den älteren Menschen bis heute sehr zu schaffen. Sie mussten Angst um ihre Gesundheit haben und litten dazu noch besonders unter den rigiden Beschränkungen, welche die Corona-Pandemie notwendig gemacht hat. Im Grunde haben wir es hier mit drei Punkten zu tun, welche die älteren Generationen in Deutschland aktuell besonders belasten: die Sorge um die eigene Gesundheit, die Angst vor Vereinsamung und natürlich immer auch die Frage nach der Rente. Niemandem ist entgangen, dass die Corona-Maßnahmen unsere Haushalte enorm belasten.
Passend dazu hat der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums ja am Dienstag vorgeschlagen, das Renteneintrittsalter auf 68 Jahre anzuheben.
Raed Saleh: Die Rente mit 68 halte ich für absolut falsch. Wer sowas äußert zeigt mangelnden Respekt vor den älteren Menschen in unserem Land! Wenn die CDU von Expertengremien in Hinterzimmern Modelle ausarbeiten lässt, wie die Menschen noch länger in der Arbeit gehalten werden können, dann finde ich das schäbig. Die Rentnerinnen und Rentner haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass es unserem Land so gut geht. Jetzt sollen sie in Ruhe auch ihren wohlverdienten Ruhestand genießen können.
Lothar Binding: Die Menschen länger arbeiten zu lassen, um mögliche Lücken bei der Rente zu stopfen, ist die Antwort der Konservativen und Neoliberalen. Das ist ein vollkommen durchökonomisierter Gedanke. Was dabei außer Acht gelassen wird: viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können es gesundheitlich gar nicht schaffen, bis 68 zu arbeiten. Ich wünsche mir zwar eine gewisse Flexibilisierung in dem Sinne, dass länger arbeiten darf, wer länger arbeiten möchte und kann. Aber niemand darf dazu gezwungen werden, denn sonst ist es einfach nur eine Rentenkürzung. Wir reden zwar hier von Geld – aber es geht vielmehr auch darum Lebensleistung zu würdigen und auch denen gegenüber Respekt zu haben, deren gesellschaftlicher Beitrag sich nicht in Heller und Cent bzw. Gewinnerwartung messen lässt.
Der Beirat sagt „schockartig steigende Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025“ voraus. Was ist die Antwort der SPD darauf?
Lothar Binding: Höhere Löhne sind essenziell. Es gibt ja seit Jahren eine enorme Produktivitätssteigerung in Deutschland. Wenn die Vorteile, die sich daraus ergeben, fair zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber verteilt werden, wäre schon eine Menge gewonnen. Als SPD werben wir zudem für eine Erwerbstätigenversicherung. Das bedeutet, dass alle in die gesetzliche Rentenversicherung einbezahlen. Dadurch werden zwar nicht schlagartig alle reicher, aber wenn alle einbezahlen, ist die Basis breiter und das Gesamtsystem stabiler. Hinzu kommt die Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge und eine Fondslösung nach schwedischem Vorbild.
Raed Saleh: Lothar hat vollkommen recht. Die CDU agiert nicht sozial. Faire Löhne und gute Arbeit sind der beste Weg, Altersarmut zu verhindern. Deshalb haben wir in Berlin im Vergabegesetz einen Landesmindestlohn von 12,50 Euro eingeführt.
Jüngere Menschen sagen oft, ihnen fehle das Vertrauen in das gesetzliche Rentensystem. Sie würden doch ohnehin später nichts bekommen. Was sagen Sie denen?
Lothar Binding: Diese Diskussionen kenne ich gut, aber die Argumente sind nur schwer zu verstehen. Es sind ja oft dieselben Leute, die sagen, sie hätten kein Vertrauen in die staatliche Rente, aber in die kapitalgedeckte private Vorsorge. Die staatliche Altersvorsorge basiert ja auf dem Versprechen, dass die Jungen für die Alten zahlen, das ist der Generationenvertrag. Das bedeutet, wenn künftig die Jungen nichts haben, dann haben die künftigen Rentner auch nichts. Aber das ist bei der kapitalgedeckten Altersvorsorge ja genauso. Deshalb sollten wir den Generationenvertrag als Hauptsäule der Alterssicherung als Erwerbstätigenversicherung stärken
Raed Saleh: Dass bei vielen jungen Leuten erhebliche Fragezeichen existieren, was die eigene Rente in zwanzig, dreißig Jahren anbelangt, kann ich verstehen. Aber das bedeutet für uns, dass wir hier mehr Vertrauen schaffen müssen und eine sichere Finanzierung für die Zukunft garantieren müssen.
Wenn Sie sagen, es wäre sinnvoll, dass alle Arbeitnehmer*innen künftig in einen Topf einbezahlen: Wie lange wird ein solcher Systemwechsel dauern?
Lothar Binding: Das ist wirklich ein großes Rad. Schon der Zeitraum, der notwendig ist, um von der vorgelagerten zur nachgelagerten Besteuerung der Rente zu kommen, ist ja enorm groß: von 2005 bis 2040 – und vielleicht muss das sogar noch verlängert werden, um eine doppelte Besteuerung zu vermeiden. Wenn wir ein komplett neues Rentensystem aufbauen wollen, brauchen wir dafür mit Sicherheit 60 bis 80 Jahre, also mindestens zwei Generationen. Das hat auch damit zu tun, dass wir ja, unter Beibehaltung aller Ansprüche, die Beamtenpensionen überführen müssen. Dabei ist klar, dass wir alte erworbene Ansprüche erhalten wollen. Bisher parallel laufende Systeme sollen lediglich in einem System zusammengeführt werden. Mit dieser Langzeitplanung könnte sicher auch Vertrauen in das zukünftig stabilere System geschaffen werden. Unsere Enkel und Urenkel werden es uns danken.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.