Rassismus: Warum wir eine Kolonialismus-Debatte brauchen
Wie viele Tote es genau waren, das kann heute niemand mehr bestimmt sagen. Hunderttausende könnten es gewesen sein, die der „Strategie der verbrannten Erde“ zum Opfer gefallen sind, schätzen Historiker. Männer, Frauen und Kinder, die von deutschen Kolonialtruppen vor über 100 Jahren gezielt in den Hungertod getrieben wurden. Die Bilanz des deutschen Feldzuges gegen die Herero in Südwestafrika: der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Afrikanische Gemeinde: Deutschland kommt seiner Pflicht nicht nach
Offiziell entschuldigt hat sich Deutschland nie für die Taten von damals. Das Thema sei bis vor kurzem verdrängt worden, sagt Moctar Kamara vom Zentralrat der afrikanischen Gemeinde in Deutschland. Dabei sei Deutschland dazu verpflichtet, seine Verantwortung wahrzunehmen, erklärt die stellvertretende Zentralratsvorsitzende Marianne Ballé Moudoumbou. Die Bundesrepublik habe sich 2001 im südafrikanischen Durban auf der „UN-Weltkonferenz gegen Rassismus“ bereit erklärt, die deutschen Kolonialverbrechen unwiderruflich anzuerkennen.
Seither fordern Aktivisten von der Bundesregierung die vollständige Umsetzung der Durban-Erklärung: zum Beispiel die Rückführung aller menschlichen Überreste afrikanischer Toter aus den ehemaligen Kolonien, die einst zur „Rasseforschung“ nach Deutschland gebracht wurden. Besonderen Wert legt Marianne Ballé Moudoumbou auf das in Durban festgeschriebene Recht der afrikanischen Gemeinde in Deutschland, bei der politischen Aufarbeitung des Kolonialismus mitzubestimmen. Aber: „Man beteiligt uns nicht“, sagt Mnyaka Sururu Mboro vom Verein „Berlin Postkolonial“.
Das M-Wort: Die Deutungshoheit über Rassismus
Zur „psychologischen Wiedergutmachung“ für die Kolonialverbrechen fordert der Zentralrat der afrikanischen Gemeinde den Sprachgebrauch in unserem Land zu ändern. Jahrelang gekämpft habe die „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“ gegen die rassistische Produktbezeichnung von Schokoküssen, bilanziert Moctar Kamara.
In Berlin dreht sich die Diskussion immer wieder um die sogenannte M-Straße, bis heute offiziell „Mohrenstraße“, Sitz vieler wichtiger Institutionen vom Bundesjustizministerium bis zur Landesvertretung Thüringen. Der Name sei nicht rassistisch, finden Anwohner, er solle beibehalten werden. „Wie können Weiße beurteilen, welche Begriffe für Schwarze diskriminierend sind?“ fragt Moctar Kamara. Schon zum zehnten Mal organisierten Kamara und seine Mitstreiter einen Gedenkmarsch für die afrikanischen Opfer des Kolonialismus: Für rassistische Bezeichnungen dürfe im öffentlichen Raum kein Platz sein, sagen sie.
Was kann die SPD tun?
Im Bundestag finden die Aktivisten Unterstützung durch den SPD-Abgeordneten Karamba Diaby. Die Gesellschaft müsse sich fragen, ob sie es zulassen wolle, dass „Schwarze Menschen in Deutschland ausgegrenzt werden“, sagt der Sozialdemokrat aus Halle. „Rassistische Bezeichnungen haben nichts auf den Straßenschildern dieses Landes zu suchen, weil sie eindeutig die Würde des Menschen verletzen.“
Mit der SPD ließe sich über das Thema reden, lobt Mnyaka Sururu Mboro von „Berlin Postkolonial“, auch wenn sich nicht jeder Ortsverein sofort hinter die Forderungen aus der Black Community stelle. Auch Linke und Grüne stünden einer Aufarbeitung der Kolonialzeit offen gegenüber. Die Union aber lehne Straßenumbenennung ab und gehe bei der Frage nach einer angemessenen Erinnerungskultur auf „Konfrontation“ zu den afrikanischen Gemeinden.
Die Wurzeln des Rassismus
Die Aktivisten von „Berlin Postkolonial“ wünschen sich von der SPD, das Thema der Erinnerungskultur von der kommunalen Ebene in die Landes- und Bundespolitik zu tragen. Bei der UN-Konferenz in Durban, erklärt Moctar Kamara, habe die Weltgemeinschaft anerkannt, dass die Wurzeln des Rassismus in der Kolonialzeit lägen. Ohne diesen Teil deutscher Geschichte aktiv aufzuarbeiten, sei das aktuelle Rassismus-Problem in unserer Gesellschaft nicht zu lösen.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.