Rassismus: Warum wir eine Debatte über deutsche Identität brauchen
Als sie kamen, waren sie fast nirgends willkommen. Sie hatten Todesängste ausgestanden, waren vor Hunger und Gewalt geflohen und nun endlich in Sicherheit. Doch ihre neuen Nachbarn wollten sie nicht haben: „Flüchtlingsschweine“ schrien sie, „die müssten hinausgeworfen werden“. Es war nach 1945, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und die „Flüchtlinge“ waren deutsche Vertriebene aus Osteuropa, die in Westdeutschland Zuflucht gefunden hatten.
Den Forderungen der Rechten nicht nachgeben
Die Geschichte der Nachkriegsjahre weist deutliche Parallelen zum Jahr 2016 auf, wie die Autorin Lamya Kaddor in ihrem sehr lesenswerten Buch „Zerreißprobe“ beschreibt: Damals wie heute zeigt sich der Hass auf die „Fremden“ – die Opfer der Ablehnung waren damals deutsche Christen aus Ostpreußen und Schlesien, heute sind es arabische Muslime aus Syrien. Laut Kaddor zeige der Blick in die deutsche Geschichte, „dass auch kulturelle oder religiöse Nähe sowie ein höherer Bildungsgrad von Einwanderern nicht ausreichen, um von der Mehrheitsgesellschaft besser aufgenommen und integriert zu werden.“ Mit anderen Worten: Den Rassisten und Fremdenfeinden kann es niemand recht machen – aus diesem Grund dürfe sich die Gesellschaft auch nicht auf deren Forderungen einlassen.
Die Ablehnung des „Fremden“ habe Tradition in Deutschland, schreibt Kaddor. Bis heute hingen viele in Deutschland dem völkischen Mythos einer kulturell homogenen Gesellschaft an, einem „Produkt des Zivilisationsbruchs durch die Nationalsozialisten“. Allerdings sei der Multikulturalismus in Europa seit jeher „ein gelebtes Faktum“ – wer Gegenteiliges behaupte, handle „höchst verantwortungslos“, findet Kaddor. Denn: Deutschsein über die Abstammung zu definieren sei nicht nur „Selbstbetrug“, sondern die „Vorbereitung von künftigen Verbrechen“.
„Deutschomane“: frustrierte Männer mittleren Alters
Lamya Kaddor identifiziert in ihrem Buch eine gesellschaftliche Gruppe, die zwar relativ klein sei, aber dennoch laut, aktiv und gut organisiert: die „Deutschomanen“. Diese fielen vor allem durch rassistische Hetze im Internet oder durch islamfeindliche Proteste in deutschen Städten auf. Die „Deutschomanen“ – oft frustrierte Männer mittleren Alters – seien vom steten Wandel der Gesellschaft überfordert und deshalb auf der Suche nach Sündenböcken. Die Folge ist blanker Rassismus: Wer keine mitteleuropäischen Wurzeln hat, „muss ständig mit Vorhaltungen und negativen Erlebnissen leben. Dazu muss man kein Muslim sein. Jeder kann davon erzählen“, schreibt Kaddor.
Die menschenfeindlichen Einstellungen beschreibt Kaddor als das „Ergebnis emotionaler Defizite“. Heutzutage gut verpackt als „Islamkritik“ richte sich die rechte Agitation gegen diejenigen Menschen, die als „Fremde im ‚deutschen Volkskörper’ wahrgenommen werden“. Völkisches Denken sei dabei „nicht zwangsläufig eine Frage der Bildung“, so Kaddor: Bei der AfD säßen Lehrer, Ingenieure, Ärzte und Professoren in der ersten Reihe – und „klatschen frenetisch, wenn eine ganze Großgruppe von Menschen pauschal herabgewürdigt wird“.
Strategien gegen die völkischen „Hater“
Rassismus dürfe nicht wegdiskutiert werden, fordert Kaddor, die sich selbst eine „deutsche Verfassungspatriotin mit syrischen Wurzeln“ nennt. Sozialarbeiter, Lehrer und Richter sollten interkulturell geschult und für strukturellen Rassismus sensibilisiert werden. Wichtig sei vor allem, dass das Märchen von der „Integrationsunwilligkeit“ der „Fremden“ endlich ein Ende habe, fordert Kaddor: Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil seien die „Integrationskurse“ für Geflüchtete regelmäßig überfüllt. Um den Hass auf die „Fremden“ zu bekämpfen, bedürfe es Veränderungen in der gesamten Gesellschaft. Kaddors Appell: „Wir müssen endlich über die Forderungen an die alteingesessene Bevölkerung reden.“
Lamya Kaddor: Die Zerreißprobe – Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht. Rowohlt, 238 Seiten, 16,99 Euro.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.