Inland

„Rassismus ist keine Randerscheinung“

von Kai Doering · 21. März 2012

Der 21. März ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Aziz Bozkurt, Mitinitiator der „Berliner Erklärung“ gegen Thilo Sarrazin, sieht ein Anwachsen des Alltagsrassismus in Deutschland. Wie dieser sich äußert und was die SPD dagegen tun muss, sagt Bozkurt im Interview mit vorwärts.de.

vorwärts.de: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Warum werden trotzdem immer noch Menschen wegen einer anderen Hautfarbe oder Herkunft diskriminiert?

Aziz Bozkurt: Nun ja, Papier ist geduldig. Es gibt grundgesetzlich verbriefte Rechte, die aber menschliche Anstrengungen brauchen, wie wir ja auch bei der Geschlechtergleichstellung sehen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist ja eindrücklicher Beweis, dass wir in Deutschland im Bereich der Antidiskriminierungspolitik noch in den Kinderschuhen stecken. Wir haben einfach nicht das notwendige öffentliche und individuelle Bewusstsein und die Sensibilität für Diskriminierungen in Deutschland. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass mit dem AGG nur der von der EU vorgegebene  Mindeststandard in Deutschland umgesetzt wurde. Die Politik, die ja eine große Vorbildfunktion in solchen sensiblen Fragen von Diskriminierungen hat, ist da sehr träge und zeigt teilweise großen Widerstand: Im letzten Haushalt wurden sogar Kürzungen des ohnehin schon schmalen Budgets der Antidiskriminierungsstelle des Bundes vorgenommen. Und schließlich ist Rassismus auch immer ein Beleg von Machtverhältnissen.

Der „Internationale Tag gegen Rassismus“ erinnert an das „Massaker von Sharpevill“, bei dem Polizisten 69 Demonstranten gegen die südafrikanischen Apartheidsgesetze erschossen. Welche Rolle spielt die Erinnerung, wenn man gegen Rassismus kämpft?

Genau solche kollektiven Schlüsselerlebnisse sind notwendig, um politische Kräfte zu bündeln und Menschen zu mobilisieren, für ihre Sache aufzustehen. Für Deutschland muss ich sofort an die Anschläge und Morde in Mölln, Solingen und Hoyerswerda denken. Diese Bilder der brennenden Häuser, des wütenden Mobs und der zuschauenden Polizei haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Für meine Familie und meine migrantischen Freunde sind die 1990er ein solches Schlüsselerlebnis. Ich frage mich aber, wie sehr dies im kollektiven Gedächtnis aller Deutschen verankert ist. Heute sprechen wir schließlich über die Mordserie der NSU, die seit den 1990er Jahren unbehelligt ihre Verbrechen begehen konnte. Das wird leider in der Öffentlichkeit viel zu wenig in einer Linie mit Mölln, Solingen und Hoyerswerda und den vielen Opfern rechter Gewalt gesehen. 

Eine gelebte Erinnerungskultur ist ein zentraler Bestandteil im Kampf gegen Rassismus. Sie zeigt uns auf, zu welch unglaublichen Taten Menschen in der Lage sind. Und im besten Fall sorgt sie dafür, dass man sich aktiv gegen Rassismus engagiert. Deshalb ist der Kampf gegen das Vergessen ein wichtiger Schritt bei der Antirassimus-Arbeit.  Manchmal bekomme ich aber das Gefühl, dass gerade die Geschichte in Deutschland dazu führt oder auch dafür genutzt wird, um täglich erfahrenen Rassismus in den Augen der Menschen schrumpfen zu lassen. Er wird schlicht zum Kavaliersdelikt degradiert und am liebsten spricht man gar nicht über das böse R-Wort, weil es typisch in Deutschland ist, dass Rassismus automatisch mit den Gräueltaten im Nationalsozialismus verbunden wird. Es ist paradox, aber dieser Automatismus führt aus meiner Sicht dazu, Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft zu relativieren. Deshalb ist es wichtig, die Kontinuitäten in unserer Geschichte zu verstehen und zu begreifen, dass Rassismus keine Randerscheinung ist.

Die Apartheid gehört mittlerweile der Geschichte an. Wie äußert sich Rassismus im 21. Jahrhundert?

Rassismus ist komplex, ich möchte aber trotzdem an einigen Beispielen zeigen, wo wir es mit rassistischen Verhältnissen zu tun haben: Ideologisch am leichtesten erkennbar ist er für uns alle im Bereich der extremen Rechten. Da würde jede demokratische Bürgerin und jeder demokratische Bürger mitgehen. Schwieriger wird es schon zu erklären, dass unser Staat im Bereich der Ausländer- und Asylgesetzgebung rassistisch ist, indem z.B. Asylbewerber und langjährig geduldete Menschen, die teilweise Jahrzehnte in Deutschland leben, nur von einem Bruchteil des Hartz-IV-Satzes leben müssen. Davon sind auch Kinder betroffen, deren Eltern als Flüchtlinge kamen und die Kinder mitbrachten oder sie sogar erst hier bekommen haben. Und ein Beispiel für Alltagsrassismus sind die jüngst öffentlich gewordenen Jahreskalender der Polizeigewerkschaften.  Ganz allgemein hat sich bei der Bewertung, was Rassismus ist, ein Wandel vollzogen, den auch erst einmal alle verstehen müssen: Bekannt ist allen die eher biologistisch orientierte Unterteilung von Menschen in „Rassen“. Heute haben wir es mit einer Verschiebung hin zu Merkmalen wie Kultur und Religion zu tun. Damit haben wir tagtäglich zu tun, dazu braucht man nur die Zeitung aufschzulagen oder einer Integrationsdebatte zu lauschen. Rassismus beginnt damit, Menschen auf ihre vermeintliche Herkunft zu reduzieren. Er setzt sich fort, wenn diese bewertet und hierarchisieret wird. Wie wir sehen, verfängt dieses Vorgehen ziemlich gut. Die Zustimmung zu Thilo Sarrazin und seinen Thesen geht ja quer durch alle Bevölkerungsschichten, vom  Professor aus Blankenese bis hin zum Bauarbeiter aus Neukölln.

Sehen Sie ein Anwachsen des Althagsrassismus’ in den vergangenen Jahren?

Ja, das empfinde ich selbst so und es ist auch Gesprächsthema im Freundeskreis. Und die Forschung bestätigt dieses subjektive Empfinden und Erleben: Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat dies in seiner Langzeitstudie zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ebenso gezeigt wie die Untersuchungen der Friedrich-Ebert-Stiftung. Alles deutet darauf hin, dass wir gerade in ökonomisch unsicheren Zeiten vermehrt mit Diskriminierungen und Abwertungen ethnischer Minderheiten zu tun haben. Neu daran sind z.B. die Verrohungstendenzen in der Mittelschicht. Frank-Walter Steinmeier hat es in seiner Rede zur NSU-Mordserie treffend benannt: Es fehlt der Anstand der Zuständigen und ich möchte ergänzen: Es fehlt auch der Aufstand der Anständigen. Daran hat es in der Sarrazin-Debatte gemangelt und es war auch sehr deprimierend zu erleben, wie wenige an den Mahnwachen vor dem Bundestag oder am Brandenburger für die NSU-Opfer teilgenommen haben. Da haben wir als Initiatoren gespürt, wie wenig Anteilnahme und offene Solidarität für die Familien der Opfer vorhanden zu sein scheint.

Sie haben die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ erwähnt. Hätten Sie mit einer solchen Qualität des Rassismus hierzulande gerechnet? 

Ja und nein. Dass das Gewaltpotenzial bedrohlich ist, zeigen die Zahlen der Opferberatungsstellen. Das war und ist allen Aktiven im Kampf gegen Rechts bekannt. Dass aber eine Mordserie dieser Qualität in unserem Land möglich ist, hätte ich nicht gedacht. Diese Erkenntnis, dass der enorme Sicherheitsapparat der Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage ist, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, ist erschütternd. Was nun die Aufklärungsergebnisse angeht: Da bin ich eher skeptisch.

Was erwarten Sie da von der SPD im Kampf gegen Rassismus?

Ich erwarte von meiner Partei, dass sie sich auf ihre Kernkompetenz besinnt und sich an die Seite der gesellschaftlich Schwachen stellt. Damit meine ich nicht, dass alle Menschen mit Zuwanderungsbiographie Opfer sind. Aber es besteht ein gesellschaftliches Ungleichgewicht und da muss die SPD auf der richtigen Seite stehen. Das heißt: Rassismus in den eigenen Reihen reflektieren und abbauen. Und sie muss die Antidiskriminierungspolitik – auch bei Gegenwind – als wichtiges Handlungsfeld verstehen. Die SPD muss die Sperrspitze für das neue vielfältige Deutschland sein!


Aziz Bozkurt ist Mitglied der SPD in Berlin und hat im vergangenen Jahr nach Beendigung des Parteiausschlussverfahrens gegen Thilo Sarrazin die „Berliner Erklärung mitinitiiert. „Wir entschuldigen uns bei den Menschen, die sich durch diese Haltung verletzt oder enttäuscht fühlen“, heißt es darin unter anderem. Daneben ist Aziz Bozkurt in verschiedenen bundesweiten und lokalen Netzwerken und Vereinen aktiv, die sich zum Thema Vielfalt in Deutschland engagieren, wie u.a. dem Forum der Brückenbauer, den Neuen Deutschen Medienmachern oder der Initiative DeutschPlus.


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Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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