Pflegenotstand in Deutschland: Schlecht bezahlt und seelisch am Ende
Raphael Huenerfauth/photothek.net
Im Jahre 1992 erschien ein kleiner „rororo aktuell“-Band mit dem Titel „Pflegenotstand – das Ende der Menschlichkeit“, herausgegeben von dem bekannten Diplom-Psychologen Wolfgang Schmidbauer. Er schrieb vor mehr als 25 Jahren: „Nach ÖTV-Unterlagen fehlen derzeit etwa 100.000 ausgebildete Kräfte.“ Und weiter: „Vor allem bei längerer Tätigkeit ist die Belastung in der Altenpflege noch größer als in anderen hochbelasteten Pflegesituationen (etwa in Krebsstationen).“ In einem Forschungsprojekt der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg, so Schmidbauer, wurde damals schon festgestellt, dass von 120 Pflegerinnen und Pflegern in Heimen und Sozialstationen, die ihren Beruf bereits zehn Jahre lang ausübten, 90 Prozent unter psychosomatischen Störungen litten.
Druck auf schlecht bezahltes Pflegepersonal
Und heute? Die Lage ist dramatisch schlimmer geworden: Das hat viele Gründe: Die veränderte Alterspyramide. Der wachsende Druck auf das schlecht bezahlte Pflegepersonal. Die Tatsache, dass die berufstätigen Frauen von heute nicht mehr wie früher Eltern und Schwiegereltern bis zur eigenen völligen Erschöpfung pflegen können. Oft sind sie heute selbst schon im Rentenalter, wenn Vater oder Mutter Rund-um-die-Uhr-Pflege brauchen. Dann bleibt nur noch das Pflegeheim.
Am Sonntag lief ein „Tatort“ aus Bremen mit dem Titel: „Im toten Winkel“. Als Krimi war das kein besonders guter Film und doch wird er bei allen, die ihn gesehen haben, lange nachwirken. Es ging um ambulante Pflege, um überfordertes und schlecht ausgebildetes Pflegepersonal, um schlimmen Betrug – der anscheinend leicht ist in diesem Gewerbe – um Angehörige, die von der Pflege Demenzkranker so überfordert sind, dass ihnen die Hand ausrutscht. Ein gebrechlicher alter Mann mit einer schwer dementen Ehefrau sah nur noch im gemeinsamen Suizid einen Weg aus der für ihn ausweglosen Situation.
Fachleute schlagen Alarm
Alle Fachleute wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Das wusste man übrigens auch schon vor einem Vierteljahrhundert. Die Antwort bei den Koalitionsverhandlungen der letzten Wochen war die Zusage, mit einem Sofortprogramm 8.000 Pflegekräfte mehr einzustellen und die Pflegeberufe attraktiver zu machen. Doch das allein wird nicht reichen. Es fehlen inzwischen nicht wie damals 100.000 Pflegerinnen und Pfleger, wahrscheinlich sind es mehr! Das heißt: Es gibt auch weiterhin keine ausreichende Hilfe für Kranke, Gebrechliche, Angehörige und bezahlte Helfer, die mit ständigem Blick auf die Uhr durch den Tag hetzen.
Nun wird man, selbst wenn guter Wille und Geld vorhanden wären, auf dem ziemlich leergefegten Arbeitsmarkt diese fehlenden Pflegekräfte nicht so rasch finden und ausbilden können. Dazu kommt: Längst hat sich ja herumgesprochen, dass es heute angenehmere Möglichkeiten gibt, sein Geld zu verdienen.
Dennoch gäbe es eine Möglichkeit, die Not zumindest etwas zu lindern. Doch dazu müsste die Regierung einräumen, einen Fehler begangen zu haben und diesen rückgängig machen. Die vor sieben Jahren beschlossene Aussetzung der Wehrpflicht – die auch das Ende des Zivildienstes bedeutet hat – müsste rückgängig gemacht werden. Wie wäre es mit einem sozialen Pflichtjahr für alle, die nicht „zum Bund“ gehen? Natürlich müsste das streng überwacht und regelmäßig kontrolliert werden. Schließlich darf es nicht um die Ausbeutung junger Leute gehen. Sie sollen nicht Toiletten und Küchenböden putzen, sondern Einkäufe erledigen, mit einsamen alten und kranken Menschen frühstücken, sie auf Spaziergängen begleiten, überwachen, dass sie ihre Medikamente nehmen. Sie können nicht Profis ersetzen, aber pflegenden Angehörigen ein paar Stunden Freiraum verschaffen, eine schwierige Situation für alle Beteiligten erleichtern.
Zivis als Rettung?
Die Zivis, die es leider schon lange nicht mehr gibt, haben in der Erinnerung der Menschen immer noch einen hervorragenden Ruf, werden bis heute vermisst. Und für die jungen Menschen war diese Erfahrung unschätzbar wertvoll. Mein Sohn, längst erwachsen und im Beruf, sagt bis heute, er sei durch die Erfahrungen in der ambulanten Pflege erwachsen geworden. Als Zivi hatte er Zeit, etwa eine alte Dame im Rollstuhl spazieren zu fahren, Menschen zuzuhören, selbst dabei viel zu lernen. Ein behinderter kleiner Junge freute sich täglich auf den jungen Mann, der Zeit für ihn hatte, nicht erschöpft war wie die eigenen Eltern.
Gerade für junge Menschen aus relativ sorglosem Milieu war es eine unschätzbare Erfahrung, Menschen helfen zu können, mit denen sie sonst kaum in Kontakt geraten wären. Bei vielen schärfte das dauerhaft den Blick für soziale Missstände. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Dienst nicht nur für junge Männer verpflichtend sein sollte. Es brauchte nur ein bisschen Mut, einzuräumen, dass die Aussetzung der Wehrpflicht – die das Ende des Zivildiensts bedeutete – ein Fehler war.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.