Inland

Petra Köpping: „Erklären, was die Menschen in Ostdeutschland bewegt“

„Integriert doch erstmal uns!“ heißt die „Streitschrift“ von Petra Köpping. Die sächsische Integrationsministerin fordert darin eine Aufarbeitung der Nachwendezeit. „Wir müssen uns die Sorgen der Menschen genau ansehen“, fordert sie im Interview mit vorwärts.de.
von Kai Doering · 20. September 2018
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Der Fall der Mauer jährt sich im kommenden Jahr zum 30. Mal. In Ihrem gerade erschienen Buch fordern Sie eine „gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit“. Warum ist die nach so langer Zeit noch notwendig?

Auch knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung liegen viele Dinge in Ostdeutschland im Argen. Das sind die Signale, die ich tagtäglich aus der Bevölkerung bekomme und die auch dazu geführt haben, dass ich diese „Streitschrift für den Osten“ geschrieben habe. Als im November 2014 zehntausend Menschen bei Pegida in Dresden auf der Straße standen, wusste keiner so richtig, was die eigentlich wollen. Das lässt sich auf viele andere Situationen übertragen. Irgendwie war der Osten immer wieder „sonderbar“. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig, zu erklären, was die Menschen in Ostdeutschland bewegt, wo sie enttäuscht wurden und wie die Politik darauf reagieren sollte.

Wo liegen denn die Enttäuschungen?

Das kann man an einem konkreten Beispiel sehr gut sehen. Die Menschen, die beim Fall der Mauer 35 Jahre alt waren, kriegen in den kommenden Jahren ihren Rentenbescheid. Wenn sie den Umschlag öffnen, realisieren sie, dass vieles von dem, was sie geleistet haben, sich nicht gelohnt hat. Sie bekommen weder gesellschaftliche Anerkennung, noch eine finanzielle. Ich habe mich mit Lehrern unterhalten, die 500 Euro Rente erhalten und mir sagen: „Jetzt muss ich arbeiten, bis ich irgendwann tot umfalle.“ Das führt zu einer Verbitterung – zumal ja nie aufgearbeitet worden ist, warum viele nach der Wende entlassen wurden.

Warum wurden sie entlassen?

Das kann sehr unterschiedliche Gründe gehabt haben. Es kann an persönlichen Vergehen gelegen haben, aber auch einfach daran, dass im Schuldienst Stellen abgebaut werden mussten. Die Menschen wollen das einfach verstehen. Hinzu kommt, dass viele Abschlüsse aus der DDR in der neuen Gesellschaft nichts mehr wert waren oder es sehr lange gedauert hat, bis sie anerkannt wurden. Menschen, die beim Mauerfall älter als 40 waren, haben nicht selten gar keine Anstellungen mehr gefunden.

Wie kann diesen Menschen eine Aufarbeitung der Nachwendezeit helfen? Ihre Rente wird dadurch ja nicht mehr.

Das stimmt. Deshalb mache ich in den Gesprächen, die ich führe, auch niemandem Versprechungen. Aber ich merke trotzdem, dass es den Menschen guttut, wenn sie über ihre Enttäuschungen sprechen können. Das einzige, was ich ihnen versprechen kann, ist, dass ich das Thema in die Aufmerksamkeit der Bundespolitik bringe, damit auch die westdeutsche Öffentlichkeit sieht, dass es noch Dinge gibt, die zu klären sind. Mein Lösungsansatz ist, Aufmerksamkeit zu schaffen. Denn die Frage ist ja, warum der Osten offensichtlich anders tickt als der Westen der Republik. Und eine Antwort liegt in den Ereignissen der Nachwendezeit.

Lässt sich damit auch der Hang nach Rechts im Osten erklären?

Nein, diese Themen würde ich stark voneinander trennen. Enttäuschungen der Nachwendezeit, wie tief sie auch sein mögen, können niemals Rechtsradikalismus rechtfertigen. Dessen Ursachen liegen woanders. In Sachsen z.B. ist das Thema von der Landespolitik jahrzehntelang totgeschwiegen und nicht bearbeitet worden. Anders sieht es bei der Frage nach der Zustimmung für die AfD aus.

Nämlich?

Die AfD wählen viele Menschen vor allem aus Protest. Sie fühlen sich überrannt von der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin oder sind unzufrieden mit der Politik in und für Ostdeutschland. Wir haben einerseits nicht immer gute Politik gemacht. Und wir haben zu wenig erklärt, was wir tun. Die Enttäuschung darüber äußert sich in den guten Ergebnissen für die AfD.

Welche Konsequenz sollte die SPD daraus ziehen?

Wir müssen die Themen bearbeiten, die den Menschen wichtig sind: Rente, Wohnen, Gerechtigkeit – um nur drei zu nennen. Wenn sich die SPD darum nicht kümmert, nimmt uns niemand ab, dass wir es wirklich ernst meinen. Wir müssen wieder federführend werden in der Lösung der Probleme. Gute Ideen dafür können ja auch mal aus dem Osten kommen, gerade was das Sozialsystem angeht. Leider sind ja viele Dinge, die sich in der DDR bewährt hatten, nicht in der Bundesrepublik übernommen worden – abgesehen vielleicht vom Ampelmännchen.

Der Impuls für Ihr Buch kam aus den Begegnungen mit Menschen in Ostdeutschland. Der Buchtitel ist ein Zitat, das Ihnen ein Pegida-Demonstrant zugerufen hat. Zurzeit sind Sie aber viel in Westdeutschland unterwegs, um den Menschen dort den Osten zu erklären. Wie sind dort die Reaktionen?

Ich habe schnell festgestellt, dass das Interesse an dem Thema in Westdeutschland sehr groß ist. Die Menschen aus der alten Bundesrepublik versuchen nachzuvollziehen, was es heißt, wenn von einem Tag auf den anderen ein ganzes System zusammenbricht bis hin zu den sozialen Strukturen. Ich blicke dann oft in ungläubige Gesichter, weil sich die Leute im Westen so etwas gar nicht vorstellen können.

Bei Pegida oder auch vor kurzem in Chemnitz ist immer wieder der Ruf „Wir sind das Volk“ zu hören. Ärgert Sie dieser bewusste Vergleich mit 1989?

Ärgern ist das falsche Wort. Die Situation am Ende der DDR und heute kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen. Die Menschen, die heute bei Pegida auf der Straße sind, missbrauchen diesen Ruf der Bürgerrechtsbewegung. Aber selbst bei den Bürgerrechtlern ist die Enttäuschung über das, was aus der friedlichen Revolution geworden ist, groß. Sie hatten damals so viele gute Ideen für ein neues, gemeinsames Deutschland, für die sich der Westen nie interessiert hat. Da gibt es das Gefühl, der Westen hat den Osten übernommen. Wir sollten die Anstrengungen der Menschen in Ostdeutschland in den vergangenen 30 Jahren viel stärker würdigen. Ich hoffe, mein Buch kann dazu beitragen.

Wir haben am Anfang gesagt, der Mauerfall liegt knapp 30 Jahre zurück. Das entspricht in etwa einer Generation. Wie viele Generationen wird es brauchen, bis keine Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland mehr erkennbar sind?

Das ist schwer zu sagen. Klar ist, dass sich die Politiker, die Anfang der 90er Jahre gedacht haben, die Unterschiede würden sich schon auswachsen, geirrt haben. Deshalb halte ich auch die Ergebnisse des „Sachsen Monitors“ für so wichtig. Dort geben die 18- bis 27-Jährigen genauso stark wie die Über-60-Jährigen an, dass sie sich wie Menschen zweiter Klasse fühlen. Das ist bemerkenswert und  macht mir Sorgen. Deshalb müssen wir uns nicht nur die Sorgen der Wende-Generation genau ansehen, sondern auch die der Menschen, die danach in die Demokratie hineingewachsen sind.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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