Das dürfte Joachim Gauck selbst nicht geahnt haben: wie schnell sein Appell auf dem SPD-Parteitag 2010 Wirklichkeit wurde. „Immer wieder einmal brauchen wir den Mut, von unseren eigenen Parteiinteressen abzusehen, weil die Interessen des Ganzen es erfordern“, rief er den SPD-Delegierten zu. Nur eineinhalb Jahre später machte die SPD-Spitze genau das. Und zwar zum zweiten Mal. Sie stellte, wie schon 2010, die Parteiinteressen hinter das Wohl des Landes und kämpfte für den überparteilichen Kandidaten Joachim Gauck. Im zweiten Anlauf mit Erfolg.
Erst das Land, dann die Partei – nach diesem Motto handelte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Von der CDU wurden laut Gabriel sogar „gestandene Sozialdemokraten“ als Präsidentschaftskandidaten ins Gespräch gebracht, nur um Gauck zu verhindern. In der Presse war von Henning Voscherau und Klaus von Dohnanyi zu lesen. Doch Gabriel suchte keinen parteitaktischen Vorteil. Er blieb bei seinem überparteilichen Vorschlag.
Ganz anders Angela Merkel. Sie betrieb Parteitaktik. Eine Politik, die ihr selbst und ihrer Partei nutzen sollte, aber nicht dem Land. Das widerlegt die immer wieder vorgebrachte Behauptung, Merkel schwebe als „präsidiale Kanzlerin“ über dem Parteienstreit. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Das galt für die Durchsetzung der CDU-Männer Horst Köhler und Christian Wulff genau so wie für die versuchte Verhinderung des Parteilosen Joachim Gauck. „Keinesfalls“, so Merkel, komme Gauck in Frage, er sei „nicht durchsetzbar in der Union“. Als ihr Widerstand vergeblich war, soll Merkel im Kanzleramt „geschrien und getobt haben“, so das Hamburger Abendblatt. „Selten habe man sie so fassungslos gesehen, sagen später welche, die sie gut kennen.“ Umso schwerer wiegt nun Merkels Niederlage als CDU-Chefin. „Ich bin sicher, dass inzwischen alle die nicht erfolgte Wahl von Gauck vor zwei Jahren bedauern“, sagt Sigmar Gabriel. „Wir freuen uns, dass die Regierungskoalition diesen Fehler jetzt revidieren will.“
Unfreiheit erlebt und erlitten
Die SPD und Gauck verbindet vor allem die Freiheitsliebe. Freiheit ist Gaucks Thema, hat er doch ein halbes Jahrhundert Unfreiheit erlebt und erlitten. Niemand schätzt die Freiheit mehr, als der, der sie entbehren muss. Den Sturz der SED-Diktatur 1989/90 nennt er die prägende Zeit seines Lebens.
In seiner Rede „Freiheit – Verantwortung – Gemeinsinn“ im Juni 2010 erklärte Gauck: „Die Freiheit, die wir bejahen, bindet sich an das Gemeinwohl. Sie akzeptiert eine Ratio des sozialen Ausgleichs und nimmt den besser Gestellten, um es den schlechter Gestellten zu geben.“ Das ist exakt die Freiheit, die die Sozialdemokratie meint. Seit 150 Jahren.
Im vorwärts-Buch „Die Kraft einer großen Idee“ schreibt Sigmar Gabriel: „Für die SPD gilt: Wir sind und bleiben die Partei der Freiheit.“ Willy Brandt hinterließ der SPD in seiner letzten Rede als Parteivorsitzender dieses Vermächtnis: „Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit.“
Die Grundwerte der SPD sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – genau in dieser Reihenfolge. „Freiheit steht nicht zufällig am Anfang der sozialdemokratischen Wertetrias. Sie ist die Voraussetzung jeglichen zivilisierten Zusammenlebens.“ So formuliert es die SPD-Grundwertekommission.
Auch Joachim Gaucks Terminus „Freiheit in Verantwortung“ entspricht dem sozialdemokratischen Freiheitsbegriff. Sigmar Gabriel bringt das auf den Punkt: „Tatsächlich gehören individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung zusammen, ja sie bedingen einander.“
Kein hohles Pathos
Der SPD-Chef nennt „zwei ganz wichtige Gründe“, warum sich die Partei für Gauck entschieden hat. Das sind zuerst Gaucks überzeugende und bewegende Reden zur Freiheit. „Bei ihm ist es eben kein hohles Pathos, wenn er von der Schönheit der Freiheit spricht.“ Zweitens lobt Gabriel, dass Gauck für Engagement in der Demokratie und ihren Parteien wirbt.
Die SPD setzt darauf, dass ein Bundespräsident Gauck die Kluft zwischen Bevölkerung und Politik wieder ein bisschen schließen kann. Die Kluft, die Merkels Präsidenten immer größer machten: Köhler als er das Amt wegwarf, Wulff als er das Amt entwürdigte.
Kritik, Gauck vertrete nicht in allen Punkten die Ziele der Sozialdemokratie, kann Gabriel nicht verstehen. Die SPD habe schon 2010 gesagt, „wenn man jemanden wünscht, der nur die Parteilinien wiedergibt, dann ist Joachim Gauck der Falsche“. Selbstverständlich werde es zwischen Gauck und der SPD in manchen Fragen auch zu Kontroversen kommen.
Die Schwerinerin Manuela Schwesig kennt den Rostocker Joachim Gauck seit Jahren. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende hat „auch als junger Mensch erlebt, dass er sehr offen für die Argumente und Ansichten der jungen Generation ist.“ Schwesig erwartet, dass Gauck ein Präsident der Bürger wird. „Er wird jemand sein, der die Herzen der Menschen erreicht.“
Das wäre ein Segen für unser Land. Besonders nach dem, was uns in den letzten Monaten aus dem Schloss Bellevue zugemutet wurde.
Stationen von Joachim Gauck
1940 Geburt am 24. Januar in Rostock
1958-65 Studium der evangelischen Theologie in Rostock
1967-89 Pastor in Mecklenburg
1990 Abgeordneter der DDR-Volkskammer für das Neue Forum
1990-2000 Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen
2003 Vorsitzender von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“
2010 + 2012 Kandidat der SPD für das Amt des Bundespräsidenten