Oliver Guez, 1974 in Straßburg zur Welt gekommen, geht durch Berlin. Er ist Journalist, schreibt für die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", den "Tages-Anzeiger", "Le Monde" und andere und lebt in Paris. In Berlin, wo er von 2005 bis 2009 wohnte, will er erkunden, wie sich jüdisches Leben nach 1945 in Deutschland gestaltete. Das wird eine Zeitschau, die weit in die Vergangenheit führt und zugleich Zukünftiges erschließt. Der Autor selbst ist ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, so wie die Menschen, mit denen er spricht.
Spurensuche im heutigen Berlin
Guez durchwandert die Rosenthaler Straße, in den 20er Jahren Teil des jüdisch geprägten Scheunenviertels, das Alfred Döblin in seinem berühmtem Roman "Berlin, Alexanderplatz" beschreibt. Der Terror der NS-Diktatur hat die mannigfaltige deutsch-jüdische Kultur zerstört. Doch Guez sucht nach den Spuren des vergangenen Lebens und findet sie.
Eingelassen ins Straßenpflaster findet er "Stolpersteine" mit den Namen von Ermordeten. In der Oranienburger Straße steht die Synagoge als steinerner Zeuge des jüdischen Lebens in Berlin. Guez erinnert an den örtlichen Polizeichef, dem der Erhalt des Bauwerks während der Nazizeit zu danken ist, wie er im Weiteren auch anderer mutiger Deutscher gedenkt. Durch diese versteckt konnten deren jüdische Bekannte mitunter überleben. Aber es waren wenige.
Eine veränderte jüdische Gemeinde
Im heutigen Berlin findet der Recherchierende eine kleine Gemeinde, die allerdings nach 1989 vor allem durch Zuwanderung aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion gewachsen ist. Damit verbunden seien ganz neue Probleme sozialer, aber auch kultureller Art, schreibt Guez. Es gebe Spannungen und Konflikte zwischen Alteingesessenen und Hinzugekommenen, religiöse Bindungen seien sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Guez spricht mit dem Autor Wladimir Kaminer, dessen Buch "Russen-Disko" in Berlin den meisten bekannt ist. Aber jüdisch? Seine Identität sei kaum jüdisch geprägt, viel eher durch sein Erleben im russischen und im deutschen Kontext, erklärt er im Interview.
Jüdisches Leben in Ost- und Westdeutschland
Die Teilung Deutschlands habe im Deutsch-Jüdischen ihre Spuren hinterlassen. Der Autor geht der Frage nach, wie es der überlebenden jüdischen Bevölkerung nach 1945 in beiden Teilen Deutschlands erging. Von den problematischen Bedingungen des Bleibens nach 45, von den displaced persons, die mangels einer anderen Unterkunft in Westdeutschlands Zunächst - ein zunächst, das sich bei etlichen über Jahre erstreckte - in den verlassenen Lagern lebten. Traumatisiert und in einem Land dessen Bevölkerung nicht über die eigene Schuld habe nachdenken wollen.
In Ostdeutschland seien die Zurückgekehrten oder die Gebliebenen zwar oft ohnehin in den kommunistischen Kampf gegen Hitler eingebunden gewesen, hätten sich am richtigen Ort gefühlt, erläutert Guez. Sie hätten allerdings Schwierigkeiten bekommen, sobald sie Forderungen nach Rückgabe jüdischen Besitzes stellten oder unterstützten, beziehungsweise Solidarität mit Israel bekundeten.
Die Frage nach dem Warum des Bleibens
Menschen jüdischer Herkunft, die sich für ein Leben in Deutschland entschieden, habe sich stets die Frage nach dem Warum des Bleibens aufgezwungen. Vor allem jene, die nach Israel gegangen waren, hätten oft nicht verstanden warum sie im Land der Mörder geblieben seien. Bleiben verband sich für sie jedoch häufig mit neuen Bindungen und mit dem, was man aktuell geschaffen hatte. Trotzdem seien die quälenden Fragen nicht verschwunden.
Neuzuzug nach 1990
Jüdisches Leben in Deutschland - was bedeutete das einst, was ist es heute? Die jetzigen jüdischen Gemeinden unterscheiden sich in der Zusammensetzung erheblich von jenen in der Zeit vor 1989. Neue kulturelle Anstöße und eine wirkliche Zukunft für die zuvor winzigen jüdischen Gemeinden gebe es erst durch deren rasantes Anwachsen auf Grund des Zuzugs aus den ehemaligen SU-Ländern nach '89. Für die neu Hinzugezogenen stehen soziale Fragen im Vordergrund. Sie suchten in Deutschland eine Perspektive für sich und ihre Kinder. Der berufliche Start, die soziale Integration sei entscheidend für ihr Kommen und Bleiben.
Unter Oliver Guez' Interviewpartnern und -partnerinnen sind einige Personen des öffentlichen Lebens. Man kennt sie, oft ohne zu wissen, dass sie jüdischer Herkunft sind. Auch sie stünden für das, was sich neu entwickelt habe, fänden sich unter ihnen doch jene, für die sich all die quälenden Fragen nach dem Vergangenen hierorts seit 1945 immer wieder neu gestellt hätten, und jene, die der dritten Generation nach der Shoah angehörig unbefangener mit Vergangenheit und Gegenwart umgingen. Ihre Fragen und Probleme seien stärker durch den Neuanfang von 1989 geprägt. So zeigt das Buch Perspektiven auf, die über den unmittelbaren Gegenstand noch hinausgehen.
Oliver Guez: "Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945", mit einem Vorwort von Jorge Semprun, Piper Verlag GmbH München 2011, 410 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 9-783492 67
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.