NSU-Mord an Halit Yozgat: Ein Fall von „betreutem Mord“
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Herr Funke, zehn Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat: Wie groß ist Ihre Hoffnung darauf, dass der NSU-Terror aufgeklärt wird?
Es wird nach wie vor blockiert, insbesondere vom Bundesamt für Verfassungsschutz. Gleichwohl ist der Druck der Öffentlichkeit so groß, dass ich die skeptische Hoffnung habe, dass das Entscheidende aufgeklärt wird.
Stichwort „entscheidend“: Laut Beobachtern sind zentrale Fragen zur Mordserie des NSU noch immer ungeklärt. Welche sind das?
Erstens: Wie groß war der Täter- und Mittäterkreis? Es waren nicht nur drei! Zweitens: Wer hat wann aus welchen Gründen wen angegriffen oder erschossen? Drittens: Kennen wir den Kopf, kennen wir die zweiten und dritten Ebenen der Terrorgruppe? Gab es vielleicht doch eine engere Verbindung zwischen organisierter Kriminalität und gewaltbereiten Rechtsextremisten? Viertens: Welche Rolle spielten Verfassungsschützer und Teile der Polizei? Welches Wissen hatten und haben sie? Welches Wissen wird zurückgehalten oder aktiv vertuscht?
Wie würden Sie die letzte Frage beantworten?
Es ist sehr systematisch vertuscht worden, es sind sehr systematisch Akten geschreddert und angehalten worden, es sind V-Leute geschützt worden. Wenn Klaus-Dieter Fritsche, der jetzige Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, erklärt: ‚Sie kriegen von uns keine Informationen, selbst wenn sie den Weg zum Bundesverfassungsgericht gehen’, dann ist das eine Anmaßung der Exekutive, sich weder durch die Legislative noch durch die Judikative kontrollieren zu lassen.
Im Fall Yozgat war sogar ein Verfassungsschützer zum Tatzeitpunkt am Tatort. Ein exemplarischer Fall für die Verstrickung der Verfassungsschutzbehörden?
Es ist ganz offensichtlich, dass der Verfassungsschützer (Andreas Temme, Anm. d. Red.) am Tatort war und ein Wissen, möglicherweise sogar Täterwissen, leugnet. Dass Temme geschützt wird von dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten und damaligen Innenminister (Volker Bouffier, Anm. d. Red.), ist ein Skandal eigenen Ranges. Im Fall Temme handelt es sich um eine Blockade von ganz oben, vom ehemaligen Verfassungsschutzchef Irrgang und vom damaligen Innenministers Bouffier.
Die thüringische SPD-Landtagsabgeordnete Dorothea Marx spricht in Bezug darauf vom „Verdacht des betreuten Mordes“. Hat sie Recht?
Der Verdacht eines vom Verfassungsschutz „betreuten Mordes“ im Falle Halit Yozgat ist begründet. Es gibt mehr Indizien dafür als dagegen. Insofern muss man einen solchen Verdacht, eine solche Hypothese formulieren und sollte dafür nicht mit Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht werden. Fragen, in einer Demokratie erst recht, sind legitim. Sie abzuwehren, ist Zensur, ausgeübt vom Verfassungsschutz und anderen.
Vertuschung, Blockade, Unterstützung: Was bedeutet all das für die Angehörigen der Opfer?
Für sie zählen weder Rache noch Bestrafung, sondern das Wissen darüber, wer wann warum erschossen wurde. Die Vorenthaltung des möglichen Wissens wirkt zerstörerisch auf die Angehörigen der Opfer. Aus ihrer Sicht ist es ein unbedingtes Muss, dass dies aufgeklärt wird.
Im zweiten Teil der NSU-Trilogie der ARD war zu sehen, wie Ermittler Opfer zu Tätern machten. Eine realistische Darstellung?
Es gab diese Einseitigkeit der Ermittlungen und einen über lange Dauer in die Institutionen eingewanderten Rassismus. Die Veröffentlichungen werfen ein ungeheuer schlechtes Licht auf die zentralen Institutionen.
Hat sich seit dem Auffliegen des NSU etwas verändert?
In der Blockade, insbesondere des Verfassungsschutzes: Kaum etwas. Die Tatsache, dass die Aufklärung blockiert wird, eröffnet einer Institution im Ausnahmezustand neue Spielräume, so weiterzumachen. Ohne Kontrolle dessen haben wir keine Demokratie.
Und bei der Polizei?
Dort haben wir ganz unterschiedliche Umgangsformen, mit durchaus positiven Beispielen. Gegenüber neuen terroraffinen Netzwerken und rechtsterroristischen Ansätzen gibt es immer wieder und vermehrt Versuche, dies unter Kontrolle zu nehmen. Das ist angesichts einer Gewaltwelle, wie wir sie seit Beginn der 90er Jahre nicht mehr erlebt haben, auch dringend geboten.