Inland

NSA-Spionage: „Denken aus dem Kalten Krieg“

Hat der amerikanische Geheimdienst NSA mehr als 20 Jahre lang deutsche Regierungschefs ausgespäht? Neue Enthüllungen behaupten genau das. Vertreter der SPD reagieren empört und fordern Aufklärung.
von Robert Kiesel · 9. Juli 2015
placeholder

Mit drastischen Worten hat Christian Flisek auf die jüngsten WikiLeaks-Enthüllungen zur Spionagepraxis der NSA im Bundeskanzleramt reagiert: „Die Amerikaner überwachen offenbar seit Jahrzehnten systematisch deutsche Regierungen. Das ist Ausdruck eines Denkens aus dem Kalten Krieg“, so der Obmann der SPD-Bundestagsfraktion im NSA-Untersuchungsausschuss. Der „Eisberg“, dessen Spitze mit der Überwachung des Handys von Angela Merkel freigelegt worden sei, wachse immer weiter. „Wir müssen mittlerweile davon ausgehen, dass er riesengroß ist“, so Flisek im Gespräch mit vorwärts.de.

NSA soll drei Kanzler ausspioniert haben

Anlass seiner Kritik sind Enthüllungen der Plattform WikiLeaks vom Mittwochabend. Darin enthalten ist eine Liste mit 56 Telefonnummern, die von der NSA überwacht wurden. Auf der Liste befindet sich nicht nur die bis mindestens 2013 gültige Handynummer von Angela Merkel, auch andere Anschlüsse aus dem Kanzleramt und dem Kanzlerbüro tauchen auf. Darunter die der Abteilungen 2, 4 und 6 - zuständig für Außen- und Sicherheitspolitik, Wirtschaftspolitik und die Nachrichtendienste. Weil sich der älteste Eintrag auf Johannes Ludewig bezieht, den Leiter der Wirtschaftsabteilung des damals noch in Bonn sitzenden Kanzleramts zwischen1991 und 1994, dürfte die Überwachung durch die NSA eine rund 20-jährige Tradition besitzen. Betroffen wären demzufolge auch Merkels Vorgänger Gerhard Schröder und Helmut Kohl.

Angesichts dessen sprach Christian Flisek von einem „massiven Vertrauensverlust“. „Die Bundesrepublik ist offenbar nicht in der Lage, ihre eigenen Interessen zu schützen.“ Er forderte Angela Merkel dazu auf, das Thema nun „ganz nach oben auf die Tagesordnung“ zu setzen. Statt bilateral vereinbarter „No-Spy-Abkommen“ müssten endlich rechtsverbindliche internationale Standards beschlossen werden. In Richtung Generalbundesanwalt Harald Range sagte Flisek: „Er müsste eigentlich die Speerspitze der Aufklärung sein, momentan ist er eher das Gegenteil.“ Range hatte die Ermittlungen nach Bekanntwerden der Abhörung des Merkel-Handys im Juni „wegen fehlender Beweise“ eingestellt. Diese könnte WikiLeaks nun geliefert haben.

Hat die Regierung ein Interesse an Aufklärung?

„Ich kann nicht sagen, dass mich das wahnsinnig überrascht hat“, kommentierte Susanne Mittag (SPD) die jüngsten Enthüllungen. Es habe sich in den Vernehmungen abgezeichnet, dass noch mehr ans Tageslicht kommen könnte, so die stellvertretende Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschuss. Die neuen Enthüllungen wertete sie als „Zeichen dafür, wie wichtig der Untersuchungsausschuss ist.“ Mittag erinnerte daran, dass auch die Bundesregierung ein Interesse daran haben sollte, die nach und nach bekannt werdende Spionagepraxis durch die NSA aufzuklären. „Wir würden uns da mehr Unterstützung wünschen“, so Susanne Mittag.

Aus dem Kanzleramt selbst war am Donnerstag keine Reaktion auf die Enthüllungen zu vernehmen. Medienberichten zufolge hieß es nach den Enthüllungen aus Regierungskreisen, man wundere sich in dieser Sache über gar nichts mehr.

Autor*in
Robert Kiesel

war bis März 2018 Redakteur des vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare