Neues Wahlrecht: Warum eine Klage der Union wenig Chancen hätte
IMAGO/Metodi Popow
Der Gesetzesentwurf der Ampel-Koalition hat das Ziel, den Bundestag zu verkleinern. Statt derzeit 736 Abgeordneten soll das Parlament wieder aus 598 Volksvertreter*innen bestehen. Deshalb soll es keine Überhangmandate und keine Ausgleichsmandate mehr geben. Dies wird dann aber dazu führen, dass es in manchen Wahlkreisen keine direkt gewählten Abgeordneten mehr gibt. Das ist für viele Wähler*innen zunächst irritierend, doch nicht alles Neue ist verboten.
Wer leer ausgeht
Beim neuen Wahlrecht treten zwar in jedem der 299 Wahlkreisen Direktkandidat*innen der Parteien an. Wer die meisten Erststimmen erzielt, bekommt aber nicht automatisch ein Mandat, sondern nur noch die Chance auf ein Mandat. Diese Chance wird immer dann enttäuscht, wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach dem Hauptstimmenergebnis Sitze zustehen. Bisher gab es in solchen Fällen Überhangmandate. Die CSU in Bayern oder die SPD in Brandenburg hatten zuletzt viele Überhangmandate. Damit der Proporz gewahrt bleibt, bekamen die anderen Parteien Ausgleichsmandate. Der Bundestag wurde dabei aufgebläht.
Nach dem Ampel-Entwurf erhalten in solchen Konstellationen künftig nur noch diejenigen Wahlkreisgewinner*innen ein Mandat, die in ihrem Wahlkreis die höchsten Stimmanteile erzielten. Die Wahlkreisgewinner*innen mit den geringsten Prozentanteilen gehen dagegen leer aus. Wer seinen Wahlkreis mit 40 Prozent der Erststimmen gewinnt, hat also gute Chancen, ein Direktmandat zu erhalten. Wer aber nur magere 22 Prozent erzielt und dennoch vorne liegt, wird bei der Verteilung der Mandate eher leer ausgehen.
Nicht nur Härten für die CSU
Die CDU/CSU bezeichnete den Wegfall von Direktmandaten am Montag in einer ersten Reaktion als verfassungsrechtlich höchst problematisch. Der CSU-Generalsekretär Martin Huber verstieg sich sogar zu der Aussage, dies sei eine „organisierte Wahlfälschung“. Die Wut hat einen Grund: Die CSU hätte 2021 auf elf ihrer 45 Direktmandate verzichten müssen, wenn das neue Wahlrecht damals schon gegolten hätte. So hätte Ex-Vekehrsminister Andereas Scheuer sein Mandat verloren, obwohl er seinen Wahlkreis gewann.
Das neue Wahlrecht bringt aber nicht nur Härten für die CSU, sondern für alle Parteien. Immerhin soll der Bundestag künftig 138 Sitze weniger haben. So hätte die SPD 2021 knapp 40 Abgeordnete weniger erhalten, wenn bereits nach den neuen Regeln gewählt worden wäre. Doch individuelle Härten machen das neue Wahlrecht natürlich nicht verfassungswidrig.
Weiter Spielraum des Gesetzgebers
Im Grundgesetz selbst steht nicht, nach welchem Wahlsystem das Parlament gewählt werden soll. Das Bundesverfassungsgericht zog daraus den Schluss, dass der Bundestag bei der Festlegung des Wahlsystems einen „weiten Gestaltungsspielraum“ hat. Er kann die derzeitige „personalisierte Verhältniswahl“ auch durch ein anderes Wahlsystem ersetzen. So könnte er nach englischem System eine Mehrheitswahl einführen, bei der nur noch die Wahlkreisgewinner*innen ein Mandat erhalten. Er könnte aber auch ein reines Verhältniswahlrecht vorschreiben, bei dem es keine Wahlkreise mehr und nur noch Parteilisten gibt.
Von dieser Möglichkeit zum Systemwechsel geht auch die CDU/CSU aus, denn auch sie schlägt ein neues Wahlsystem vor, das so genannte Grabensystem, bei dem die eine Hälfte der Mandate nach Mehrheitswahl und die anderen Hälfte nach Verhältniswahl bestimmt wird.
„Angemessene Gewichtung der Direktmandate"
Das von der Ampel vorgeschlagene System ist im Kern eine Verhältniswahl. Es weist aber noch Reste des Mehrheitswahlrechts auf, weil es ja immer noch Wahlkreise und Wahlkreisbewerber*innen gibt. Dass auch eine derartige Mischform zulässig ist, hat das Bundesverfassungsgericht 2012 ausdrücklich festgehalten. In der Aufzählung zulässiger Wahlformen findet sich auch „eine Erstreckung des Verhältniswahlprinzips auf die gesamte Sitzverteilung unter angemessener Gewichtung der Direktmandate".
Falls das Wort „angemessen“ nicht nur eine Beschreibung, sondern eine Vorgabe sein sollte, so wäre auch diese erfüllt. Denn die Direktmandate spielen auch künftig eine große Rolle. Eine Simulation von Zeit Online ergab, dass nur in 35 von 299 Wahlkreisen die Wahlkreisgewinner*innen von 2021 kein Mandat erhalten hätten (wenn damals schon nach dem neuen Wahlrecht gewählt worden wäre).
Problem Ersatzstimme
Zudem ist die Ammpel-Koalition bereits auf die Union zugegangen, um verfassungsrechtliche Risiken zu verringern. Hauptkritikpunkt der CDU/CSU war ursprünglich die sogenannte Ersatzstimme. Mit ihr sollte nach einem ersten Ampel-Entwurf der oder die Wahlkreis-Abgeordnete bestimmt werden, wenn der oder die eigentliche Gewinner*in nicht zum Zug gekommen wäre. Die Union kritisierte jedoch, dass es gegen das Mehrheitsprinzip verstoße, wenn nicht der oder die Wahlkreisgewinner*in das Mandat erhalte, sondern ein*e andere*r Bewerber*in.
Im aktuellen Entwurf der Ampel wird die Ersatzstimme nicht mehr erwähnt. Wenn der oder die Wahlkreisgewinner*in das Direktmandat nicht erhält, dann bekommt es auch kein*e andere*r Wahlkreisbewerber*in, sondern es wird über die Parteilisten verteilt. Hier hat die CDU/CSU also keinen Ansatzpunkt mehr für eine Klage.
Problem Erfolgswert
Nun gibt es nur noch kleinere verfassungsrechtliche Kritikpunkte. So moniert die Union, dass der Erfolg einer Wahlkreisstimme davon abhänge, wie in anderen Wahlkreisen gewählt wird. Damit sei die Erfolgswertgleicheit der Stimmen nicht mehr gewährleistet. Das ist zwar richtig, kann aber gerechtfertigt werden, weil das neue Wahlsystem ja die Funktionsfähigkeit des sonst übergroßen Bundestags verbessert.
Ähnlich ist es ja bei der schon lange geltenden Fünf-Prozent-Hürde. Zwar entwertet sie die Stimmen, die für Splitterparteien abgegeben werden, weil jene keine Chance auf Parlamentssitze mehr haben. Das Bundesverfassungsgericht hat aber bereits entschieden, dass dies gerechtfertigt ist. Es verbessere die Funktionsfähgkeit des Bundestags, wenn es nicht so viel unterschiedliche Parteien im Parlament gibt.
Geringe Erfolgsaussichten einer Klage
Eine Verfassungsklage der CDU/CSU hätte also nur geringe Erfolgsaussichten. Deshalb sind entsprechende laute Ankündigungen inzwischen verstummt. Derzeit heißt es in der Fraktion nur, es sei noch keine Entscheidung gefallen.
Für eine abstrakte Normenkontrolle wären 25 Prozent der Abgeordneten erforderlich, also 184 Unterstützer*innen. Die CDU/CSU-Fraktion hat zwar 197 Abgeordnete, aber viele sind inzwischen gegenüber einer Klage eher skeptisch. Denn es wäre wohl wenig populär, gegen die Verkleinerung des Bundestags zu klagen – erst recht wenn die Klage am Ende in einer Niederlage mündet.