Inland

Neuer ver.di-Chef Werneke: Keine Kündigungen wegen Digitalisierung

Mehr Geld, mehr Freiheit, Bildung statt Kündigung: Im Gespräch mit dem „vorwärts“ spricht der neue Ver.di-Vorsitzende Frank Werneke über die Herausforderungen der Digitalisierung, die großen Fußstapfen seines Vorgängers Frank Bsirske und Gewerkschaftsmitglieder, die die AfD wählen.
von Benedikt Dittrich · 14. Oktober 2019

Herr Werneke, Sie wurden in bewegten Zeiten an die Spitze der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gewählt. Die Digitalisierung wälzt die Arbeitswelt um. Sehen Sie die Transformation als Herausforderung oder als Chance?

Nahezu alle Arbeitsbereiche sind durch die Digitalisierung und den Einsatz künstlicher Intelligenz betroffen. Wir stehen vor einem Umbruch, in dem wir als Gewerkschaft, aber auch die politischen Parteien gefordert sind, Perspektiven für die betroffenen Menschen aufzuzeigen. Es gibt eine Reihe von Branchen und Betrieben, in denen es durch den Einsatz neuer Technologien einen Beschäftigungsabbau gibt. Da sind wir in der Verantwortung, gemeinsam mit den Betroffenen ganz konkrete Lösungen zu vereinbaren.

Von welchen Bereichen sprechen wir da?

Im Moment gibt es große Umbrüche bei Versicherungen und Banken. Das hängt auch stark mit veränderten Geschäftsmodellen zusammen. Darüber hinaus ist es zum Beispiel heute schon bei Krankenkassen möglich, Fälle komplett automatisiert abzuarbeiten, wo früher Menschen entschieden haben. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Aufbau von Beschäftigten im IT-Bereich. Mit Blick auf die Arbeitsplatzprofile passt da eins und eins aber nicht immer aufeinander.

Eine Umschulung ist also in den Bereichen nicht möglich?

In manchen Fällen leider nicht. Deswegen ist die Transformation eine riesige Herausforderung. Die Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss bereits ansetzen, wenn absehbar ist, dass sich Erwerbsprofile ändern und nicht erst, wenn die Arbeitslosigkeit bereits eingetreten ist. Dazu brauchen wir neue Instrumente in der Arbeitsmarktpolitik. Mit dem Bundesarbeitsminister sind wir im Dialog. Unser Anspruch ist: Der Einsatz neuer Technologien darf nicht zu Kündigungen führen. Stattdessen brauchen wir eine starke Initiative zur beruflichen Weiterbildung.

Wenn an anderer Stelle neue Arbeitsplätze entstehen, heißt das aber nicht automatisch, dass die neuen Mitarbeiter auch direkt Gewerkschaftsmitglied werden.

Einen Automatismus gibt es da sowieso nicht, egal in welchem Bereich. Wir hatten dennoch im vergangenen Jahr 122.000 Eintritte, dieses Jahr sieht es ähnlich gut aus. Viele Neumitglieder arbeiten im personenbezogenen Dienstleistungsbereich, also zum Beispiel in der Altenpflege, in Krankenhäusern und bei Rettungsdiensten. Aber auch bei den privaten Banken hatten wir deutliche Zuwächse – nicht zuletzt aufgrund der tarifpolitischen Situation.

Unterschiede zwischen Ost und West werden nicht mehr akzeptiert

Ist beim Organisationsgrad noch ein Gefälle zwischen Ost und West zu sehen?

Bei den Neueintritten gibt es kein Ost-West-Gefälle mehr. Wir haben in den ostdeutschen Bundesländern gute Eintrittszahlen. Trotzdem existieren natürlich noch Unterschiede, das betrifft vor allem die Tarifbindung. In der Privatwirtschaft sind im Osten gerade noch 20 Prozent der Arbeitsplätze durch Tarifverträge geschützt. Im Westen liegt der Wert bei ungefähr 50 Prozent. Außerdem sind die Konditionen in Ostdeutschland oft schlechter als in Westdeutschland. Das betrifft zum Beispiel die längeren Arbeitszeiten, übrigens auch im öffentlichen Dienst. Das wird zunehmend nicht mehr akzeptiert – und zwar zu Recht. Deswegen wollen wir das zunächst bei der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen im nächsten Jahr angehen.

In Gewerkschaften wird das Solidaritätsprinzip großgeschrieben, gleichzeitig gibt es Mitglieder, die die AfD wählen. Wie geht das aus Ihrer Sicht zusammen?

Verdi ist klar  gegen rechts aufgestellt. Das gilt für alle DGB-Gewerkschaften. Wir stehen in einer antifaschistischen Tradition, angefangen bei der Niederschlagung des Kapp-Putsches, über den Widerstand im Dritten Reich bis zum Kampf gegen rechts in der Bundesrepublik Deutschland. Das sollten alle wissen, die dann trotzdem die AfD wählen. Der Anteil von AfD-Wählern unter Gewerkschaftsmitgliedern entspricht nach Wahl-Befragungen in etwa dem Anteil innerhalb der Gesellschaft. Das ist natürlich eine echte Herausforderung für uns. Die führt jedoch nicht dazu, dass wir an Eindeutigkeit verlieren. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es einen Teil in der Bevölkerung - auch innerhalb der Gewerkschaften - gibt, die unsere Argumente nicht annehmen. Manche erschaffen sich ihre eigene Gedankenwelt und sind rein aus pragmatischen Gründen Gewerkschaftsmitglied und verschließen sich einem politischen Diskurs. Unsere Aufgabe ist es, dies zu durchbrechen - und das ist alles andere als banal.

Ihr Vorgänger war Mitglied der Grünen, Sie sind Mitglied der SPD. Wird sich jetzt also etwas ändern an der politischen Zusammenarbeit?

Das macht für die SPD nichts besser aber auch nichts schlechter. Verdi hat immer Kontakte  zu allen relevanten demokratischen Parteien in Deutschland gepflegt. Das wird so bleiben.

Die Fußstapfen von Frank Bsirske sind aber doch sehr groß, oder nicht?

Natürlich. Wenn jemand 18 Jahre dieses Amt geformt hat, in der Öffentlichkeit das Gesicht von ver.di war, dann ist sein Ausscheiden eine Zäsur. Aber der Start mit einem neuen Bundesvorstand ist uns, glaube ich, ganz gut gelungen. Fast alle Vorstandsmitglieder haben ja auch bisher schon dem Vorstand angehört.  Das Team ist gut aufeinander eingespielt. Was wir bereits an politischen Projekten begonnen haben, werden wir jetzt fortführen. Trotzdem wird es sicher Veränderungen im äußeren Erscheinungsbild geben, vielleicht auch im Stil an der einen oder anderen Stelle.

Welche Projekte sind denn aus Ihrer Sicht die größten für die nahe Zukunft?

Für die kommenden vier Jahre gibt es drei große Themen. Zuerst wollen wir das Tarifsystem wieder stärken - mehr Tarifverträge durch eigene Kraft durchsetzen. Flankierende politische Unterstützung ist dabei wichtig. Zum Beispiel bei der Vergabe öffentlicher Aufträge: 400 Milliarden Euro werden durch Bund, Länder, Kommunen und öffentliche Unternehmen jedes Jahr vergeben. Das sind 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Es ist doch im Interesse der gesamten Gesellschaft, dass diese Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden.

Öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen

Über die Digitalisierung der Arbeitswelt haben wir schon gesprochen. Das dritte Thema ist nachhaltiges Wirtschaften, eine nachhaltige Lebensweise. Verdi ist für eine Beschleunigung des ökologischen Wandels, auch im Verkehrssektor, dem herstellenden Gewerbe und im Agrarbereich. Aber wir treten als Gewerkschaft dafür an, dass es bei der ökologischen Transformation sozial gerecht zugeht, dass die Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen mitgenommen und nicht benachteiligt werden.

Und was steht für die nächsten Tarifverhandlungen an?

Aktuell bereiten wir uns auf die Tarifrunde für den Bund und die Kommunen im nächsten Jahr vor. Aus einer Umfrage unter unseren Mitgliedern geht hervor, dass es ein großes Bedürfnis gibt, Gehaltssteigerungen auch in freie Tage umzuwandeln zu können.

Es geht also nicht mehr hauptsächlich um Gehaltssteigerungen?

Doch: Gute Gehaltssteigerungen sind unverändert das wesentliche Ziel in den bevorstehenden Tarifverhandlungen, gerade in den nächsten Jahren. Mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche Lage ist es notwendig, dass die Reallöhne weiterhin steigen. Nur dadurch kann die Binnennachfrage auf einem hohen Niveau gehalten werden. Unsere Kaufkraft ist momentan der Garant dafür, dass Deutschland nicht in eine Rezession kippt. Deswegen werden wir weiter eine mutige Lohnpolitik betreiben und dafür streiten. An Bedeutung gewinnt aber der Anspruch, diese Gehaltssteigerungen auf Wunsch auch in Freizeit umwandeln zu können - ganz nach der persönlichen Entscheidung des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin.

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