Inland

Neuer AWO-Chef Schubert: „Solidarität hat etwas Mitreißendes“

Als neuer AWO-Chef übernimmt Jens Schubert sein Amt in schwierigen Zeiten. Er will begeistern mit Ideen und Miteinander – und das in der Corona-Krise. Über Ziele und Schwerpunkte und über die Zusammenarbeit mir der SPD spricht der Experte für Arbeits- und Sozialrecht im Interview.
von Vera Rosigkeit · 25. Januar 2021

Es sind schwierige Zeiten, in denen Sie den Bundesvorsitz der AWO übernehmen. Wie verändert Corona Ihren Wohlfahrtsverband?

Corona trifft uns auf allen Ebenen. Bei den Hauptamtlichen sowie unseren ehrenamtlich Tätigen, die erzieherische, pflegerische oder andere soziale Arbeit in unseren Einrichtungen leisten. Unsere Hauptamtlichen sind massiv überlastet und leiden vor allem an der Unsicherheit, weil es so schwierig ist, Perspektive aufzuzeigen.

Das Ehrenamt ist betroffen, weil viele unsere Freundinnen und Freunde zu jener Gruppe zählen, die besonders gefährdet ist und auf sich selbst aufpassen muss. Das verringert deren Einsatz im Mensch-zu-Mensch-Kontakt. Die Jüngeren machen sich mit Ideen im Bereich Online-Konferenzen stark, aber auch dort bestehen Ängste. Und auf der übergeordneten Ebene der Landesverbände und des Bundesverbandes sind wir politisch stark eingebunden, um unsere Sorgen und Nöte einzubringen. Wir wissen aber gleichzeitig, dass es in dieser Krise auf uns mit ankommt

Sorge, Leute in ihrer Bindung an uns zu verlieren

Aus verbandlicher Sicht macht Corona die Mitgliederwerbung, die ohnehin wegen des allgemein geringeren Bindungswunsches vieler hin zu Vereinen und Verbänden herausfordernder geworden ist, schwer, ja verhindert sie geradezu. Gemeinschaft wird bei uns ja aktiv gelebt. Dazu kommen wir aber gerade nicht, weil es derzeit keine Kontakte geben darf. Kurzum: Wir haben Sorge, Leute auch in ihrer Bindung an uns zu verlieren.

Wie lässt sich diesem Trend entgegenwirken?

Mit den Vor-Corona-Methoden werden wir sicherlich nicht alles wieder in den Griff bekommen. Aber Corona hat ja auch gezeigt, wie viel Innovationskraft in uns allen steckt. Die müssen wir aufgreifen. Auch wenn wir uns nach Corona wieder persönlich treffen wollen, wird es weiterhin Online-Konferenzen geben. Menschen, die vielleicht nicht mehr so mobil sind, können wir auf diesem Wege ansprechen und uns zudem bei den Jüngeren moderner darstellen.

Gerne würde ich auch andere Formen der Zusammenarbeit prüfen. Wir könnten als Beispiel in der Quartiersarbeit nicht nur von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen Sichtbarkeit verschaffen, sondern vielleicht auch Anlaufstelle sein für Familien in Not und damit Menschen ansprechen, in diesem einen konkreten Projekt mitzuarbeiten. So ließe sich Bindung herstellen, ohne gleich den Mitgliederzettel daneben zu legen. Wir müssen begeistern mit unseren Ideen und unserem Miteinander. Denn das Miteinander scheint durch Corona wieder stärker in den Fokus zu rücken. Hier müssen wir Angebote machen. Solidarität hat etwas Mitreißendes.

Welche Schwerpunkte und Ziele haben Sie sich gesetzt?

Wenn man ein 100-Tage-Programm nehmen wollte, würde ich drei Schwerpunkte setzen. Da geht es zum einen um die Bekämpfung von Kinderarmut – ich bin Sprecher des „Bündnis Kindergrundsicherung“, zum anderen um die faire und gerechte Entlohnung in der Pflege. Bei diesem Thema bin ich seit längerer Zeit stark engagiert. Das müssen wir in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen und sind auf gutem Weg, auch wenn diejenigen, die schlechte Arbeitsbedingungen zu ihrem Geschäftsmodell gemacht haben, aktuell viel Wind machen. In der gegenwärtigen Situation ist dies geradezu schamlos.

Frage der Gerechtigkeit: Wie werden Lasten nach Corona verteilt?

Drittens möchte ich den AWO-Wert Gerechtigkeit an folgenden Stellen konkretisieren: Wie werden die Lasten nach Corona, die leider sicher kommen werden, gerecht verteilt? Klar muss sein, dass die starken Schultern mehr leisten müssen als die schwachen. Und wie werden die Folgekosten des Klimawandels umgelegt? Auch die müssen ehrlich benannt und gerecht verteilt werden. Von den Schwachen Verzicht zu fordern, geht nicht.

Anders gesagt: Ökologische Veränderungsprozesse ohne die sozialen Folgen zu behandeln, ist zu kurz gedacht. Und das dritte Gerechtigkeitsthema betrifft jene Studien, die besagen, dass Corona bei der Gleichstellung der Geschlechter Frauen um Jahre zurückwirft. Hier ist unser Job, dafür zu sorgen, dass sich solche Studien als falsch erweisen werden.

Sie übernehmen die AWO in einer Zeit, in der sie negative Schlagzeilen macht. Es geht um überhöhte Gehälter und Luxusdienstwagen von Führungskräften. Wie wollen Sie solche Machenschaften künftig verhindern?

Indem wir Ernst machen mit unseren Ankündigungen. Doch vorab: Wir haben vor Ort sehr, sehr viele tolle Kolleginnen und Kollegen, die ohne, dass es groß in den Zeitungen steht, jeden Tag seriöse und zugewandte Arbeit leisten. Was haben wir also bisher unternommen? Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen vor Ort haben wir alles versucht, damit die Personen, die Compliance-Verstöße begannen haben, rausfliegen. Wie haben Strafanzeigen gestellt, Überprüfungen durchgeführt, Behörden eingeschaltet. Wir fordern das Geld zurück und erheben Klagen.

Gekommen, um sozialpolitisch zu gestalten

Wir haben unseren Governance-Kodex noch einmal verschärft; er dürfte damit einzigartig im Wohlfahrtsbereich sein ­– und er sorgt dafür, dass sämtliche Einrichtungen Regeln unterworfen sind, die regelmäßig überprüft werden. Diesen Prozess begleiten wir auch, z.B. durch Schulungen. Ich werde mir in dieser Sache keine Ausreden überlegen: Das ist nicht mein Ansatz. Die Verfehlungen waren bei uns und wir müssen sie angehen – Punkt. Natürlich gibt es schönere Aufgaben zu Beginn einer Amtsübernahme, das Thema ist aber anzugehen. Gekommen bin ich jedenfalls, um sozialpolitisch zu gestalten.

Lässt sich das so verloren gegangene Vertrauen wiedergewinnen?

Vertrauen zu verlieren, ist nachhaltig, es wiederzugewinnen schwierig. Es gilt, seriös, akkurat und transparent zu arbeiten. Zumal wir Geld vom Staat bekommen, weil er sich – und das ist der Hintergrund – unserer Einrichtungen bedient, um sein Sozialstaatsversprechen einzulösen. Mit diesem Geld haben wir sorgsam umzugehen.

Was wäre Ihre Vision für die AWO?

Gäbe es Corona nicht, wären „Visionen“, besser Ziele, für mich stärker abbildbar. So aber haben wir beispielsweise trotz Rettungsschirm Einrichtungen, die in ihrem Tun in jeglicher Hinsicht zu kämpfen haben.

Da ist als erstes Konsolidierung, Kärrnerarbeit angesagt. Zweites Thema ist die anstehende Bundestagswahl: Wir wollen es schaffen, sowohl im Wahlkampf als auch den anschließenden Koalitionsverhandlungen unsere Ideen unterzubringen. Uns ist wichtig, dass Sozialpolitik nicht zu kurz kommt, um, um bei dem Wort zu bleiben, Visionen überhaupt eine Chance zu geben.

Es gibt eine Vorschrift im EU-Recht, nach der das wirtschaftliche Handeln und Tun auf sozialen Fortschritt abzuzielen hat. Das ist eine gute Richtschnur und erinnert daran, dass wirtschaftliche Erwägungen am Menschen auszurichten sind und keinen Selbstzweck darstellen. Da haben wir ein weiteres Ziel. Schließlich möchte ich mit der AWO daran mitwirken, ein Umfeld entstehen zu lassen, wo wir weniger als Feuerwehr denn als Brandschützer, also präventiv, tätig sind. Die Familienpolitik ist hier ein sehr gutes Beispiel.

Wie sieht es mit der Zusammenarbeit von AWO und SPD aus?

Kennen Sie noch den alten Dreiklang: SPD, Gewerkschaft, AWO? Das war Standard. Nimmt man das Wahlprogramm der SPD und unsere Grundwerte, da ist kaum Luft dazwischen. Deshalb glaube ich, dass SPD und AWO viele Projekte gemeinsam voranbringen und sich wechselseitig unterstützen können. Schön wäre es, wenn viele Genossinnen und Genossen als Mitglied bei der AWO mitmachten, hier waren – offen gesagt – die Zahlen früher schon mal besser.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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