Die Europäische Union ist ein Erfolgsprojekt. Seit mehr als fünf Jahrzehnten leben wir in Frieden, Demokratie und Wohlstand. Unser Modell von Solidarität und Freiheit gilt vielen in der Welt
als Vorbild. Gefeit vor Krisen war die europäische Integration gleichwohl nie. Doch anstatt kleinmütig und verzagt zu reagieren, lag die Antwort stets darin, beherzt die Initiative zu ergreifen
und neue Perspektiven zu entwickeln. So wie 1955 die Mitgliedstaaten nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit der Erklärung von Messina ihren Willen bekundeten, ihre
Zukunft gemeinsam zu gestalten, bekennen auch wir uns heute dazu. Die zentrale These der Messina-Erklärung ist immer noch aktuell: Ein vereintes und friedliches Europa ist nur "durch die
Entwicklung gemeinsamer Institutionen, das schrittweise Zusammenwachsen nationaler Ökonomien, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die schrittweise Harmonisierung ihrer Sozialpolitiken"
erreichbar.
Sozial trotz Globalisierung
Viele der ökonomischen Ziele haben wir mittlerweile erreicht. Der Binnenmarkt ist weitgehend vollendet. Das sichert und schafft Arbeitsplätze. Der Euro ist eingeführt worden. Europäisches
Recht schützt Verbraucher und regelt den Wettbewerb. Gleichzeitig aber setzt die Globalisierung unser bewährtes Wirtschafts- und Sozialmodell wie nie zuvor unter Druck. Wir müssen diesen Prozess
offensiv gestalten: sozial und demokratisch. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger überzeugen, dass die Europäische Union eine positive Rolle in ihrem Leben spielen kann - durch die
Stabilisierung der Wirtschaft, den Schutz der Umwelt und die Durchsetzung von Fairness und Gerechtigkeit in der ganzen Union.
Voneinander lernen
Europa profitiert von seiner Vielfalt. Wir müssen uns noch stärker für neue Ideen öffnen und Bereitschaft zeigen, voneinander zu lernen. Der kreative Wettbewerb um die besten Ideen ist ein
Erfolg versprechender Weg für unsere Zukunft. Wir streben nach einem sozialen Europa, das dem wirtschaftlichen Wachstum, dem Frieden und der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Hierzu bedarf es
konkreter Maßnahmen:
Für Mindestlöhne in allen 27 Mitgliedstaaten
Das europäische Sozialmodell beruht auf Solidarität. Wir streben nach einer höherer Lebensqualität und einem stärkeren sozialen Zusammenhalt. Die sozialen Sicherungssys-teme sollten in der
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleiben. Die EU muss sich jedoch auf Mindeststandards im Arbeits- und Sozialrecht einigen. Arbeitnehmerrechte und Mitbestimmung müssen auf europäischer Ebene
konsequent gesichert werden. Sie sind ein zentraler Pfeiler des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells und unterstützen Wettbewerbsfähigkeit und unternehmerischen Erfolg. Europa braucht
qualifizierte Arbeitsplätze, die Arbeitnehmern und deren Familien ein angemessenes Einkommen ermöglichen, von denen diese leben können. Mindestlöhne in allen 27 Mitgliedstaaten sind deshalb
nötig, die national auf der Grundlage gemeinsamer Kriterien festzulegen sind. Ein hoher Standard der öffentlichen Dienstleistungen ist ein Kernelement des Europäischen Sozial- und
Wirtschaftsmodells. Ihre Bereitstellung muss sichergestellt werden. Das erfordert solide öffentliche Finanzen und einen Rechtsrahmen, der diesem Ziel Rechnung trägt.
Beispielhaft im Klimaschutz
Der Schutz von Umwelt und Natur kennt keine nationalen Grenzen. Deshalb ist gerade hier eine funktionierende europäische Zusammenarbeit zwingend, um die natürlichen Lebensgrundlagen zu
sichern und erfolgreich gegen den Klimawandel vorzugehen. Wir müssen unsere Energieversorgung sichern, die Energieeffizienz steigern und Erneuerbare Energien fördern. Wir fordern eine europäische
"Top-Runner Initiative", die gewährleistet, dass der jeweils höchste Grad der Energieeffizienz zur Standardnorm für alle Elektrogeräte wird. Die Forderung nach einer europaweiten Kerosinabgabe
unterstützen wir. Weitere wichtige globale Ziele sind die Wiederaufforstung der Wälder, die Sicherung des Zugangs zu sauberem Trinkwasser für jedermann und der Kampf gegen die Ausbreitung von
Wüsten. Nur wenn wir beispielhaft vorangehen, können wir größere Anstrengungen anderer Staaten glaubhaft einfordern.
Europa stärkt den Frieden
Die europäische Integration ist nicht nur ein wirtschaftlicher Erfolg. Sie ist vor allem das erfolgreichste Friedensprojekt der Geschichte. Nach zwei Weltkriegen, Faschismus, Holocaust und
Eisernem Vorhang ist Europa heute in Frieden und Wohlstand wiedervereint. Nun gilt es, den Frieden nicht nur in Europa, sondern auch global zu sichern. Wir müssen endlich unser gegenseitiges
Misstrauen überwinden und im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik enger zusammenarbeiten. Wir schlagen weitere konkrete Schritte in der gemeinsamen Entwicklung und Beschaffung von
Ausrüstung und einer noch engeren militärischen Zusammenarbeit vor. Gleichzeitig hierzu müssen wir eine gemeinsame Entwicklungshilfestrategie schaffen, die Entwicklungszusammenarbeit
vergemeinschaften und die Finanzierung der Entwicklungshilfe vollständig in den EU-Haushalt integrieren. Eine multipolare Weltordnung braucht ein starkes Europa, das mit einer Stimme spricht.
Bürgerbegehren und "Doppelte Mehrheit"
Wir haben uns in Europa viel vorgenommen. Die Herausforderungen, denen wir gegenüber stehen, erfordern Veränderungen der EU-Institutionen an Kopf und Gliedern. Der Verfassungsvertrag
enthält wichtige Neuerungen: Die Stärkung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, die Einführung eines Bürgerbegehrens, vereinfachte Entscheidungsmechanismen wie die "Doppelte
Mehrheit" und Mehrheitsentscheidungen im Rat, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta, die Stärkung der Außen- und Sicherheitspolitik insbesondere durch einen Europäischen Außenminister
versetzen die Europäische Union in die Lage, die gemeinsame Zukunft besser zu gestalten. Diese Reformen machen Europa demokratischer und handlungsfähiger.
Zukunftsfähige Verfassungsgrundlage schaffen
Nur mit der Bereitschaft zu Kooperation und Kompromiss kann Europa gelingen. Alle Partner müssen dieses Prinzip akzeptieren. Das Ratifizierungsverfahren des Verfassungsvertrags ist der
Lackmustest für alle Mitgliedstaaten, ob sie dazu bereit und willens sind. Das gilt sowohl für diejenigen, die schon ratifiziert haben, als auch für jene, deren Ratifizierung noch aussteht. Es
ist an der Zeit, uns endlich wieder auf unser gemeinsames Interesse zu besinnen: Frieden, Wohlstand und Stabilität für alle Bürgerinnen und Bürger Europas. Um die gegenwärtige Krise zu
überwinden, müssen sich alle Mitgliedstaaten anstrengen. Rechtzeitig vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament muss eine zukunftsfähige Verfassungsgrundlage in Kraft getreten sein.
Ein solidarisches Europa ist möglich
Die demokratische Entwicklung der EU darf nicht von populistischen politischen Abenteurern untergraben werden. Es ist unsere Verantwortung, Europa auf einer Kultur des Dialogs und der
Diskussion zu bauen, die frei von allem Extremismus ist. Unser Einsatz für die Europäische Union erfordert Selbstvertrauen, Kraft und Optimismus. Im Interesse aller Europäerinnen und Europäer
gilt es, die gemeinsamen Grundlagen wieder zu entdecken und die nötigen Reformen entschlossen voranzutreiben. Andernfalls droht das Auseinanderfallen der EU in Gruppen, die sich mit
unterschiedlichem Tempo in verschiedene Richtungen weiterentwickeln. Das ist mit unseren Vorstellungen von einem solidarischen Europa unvereinbar. 50 Jahre erfolgreicher Integration liegen hinter
uns. Das sollte uns allemal dazu verpflichten, einen neuen Aufbruch zu wagen. Noch ist es dafür nicht zu spät.
Die Verfasser:
Gaâtan Gorce, Mitglied der französischern Nationalversammlung für den Wahlkreis Nièvre, Teil des Region Burgund und Mitglied des Vorstands und des Nationalen Exekutivkomitees der
Sozialistischen Partei Frankreichs
Ian Lucas, Abgeordneter der Labourpartei im britischen Unterhaus für den Wahlkreis Wrexham
Juan Moscoso del Prado Hernández, Mitglied des spanischen Kongresses für die spanische Arbeiter- und Sozialistische Partei und erster Sekretär des gemeinsamen Ausschusses für die
Ange-legenheiten der EU im spanichen Kongress.
Michael Roth, Mitglied des Bundestages und stellvertretender europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
Istvan Ujhelyi, Mitglied des ungarischen Parlaments, Vizepräsident der MSZP und Staatssekretär im Ministerium für Kommunales und Landesentwicklung der Republik Ungarn
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.