Neoliberale Politik: Wie die Pflege durchkapitalisiert wurde
Die Pflege ist eine unserer ganz großen gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben. Und berechtigterweise ist dieses Thema auf die politische Agenda gerückt worden, zuletzt durch eine konzertierte Aktion des Gesundheits-, Arbeits- und Sozial- sowie des Familienministeriums. Dabei ist auch die stationäre Pflege im Blick, die in einer prekären Situation ist. Die zentralen Stichworte sind: Personalnot, Minutenpflege, Qualitätsdefizite – um nur einige zu nennen. Bevor jetzt wieder der übliche politische Aktionismus einsetzt, müssen wir uns nach der Ursache dieser Misere fragen.
Wettbewerb in der Pflege
Wir können dabei den Finger in viele Wunden legen, aber – zugespitzt – lautet meine These: Es sind vor allem die politischen Akzentsetzungen der letzten 20 Jahre gewesen, die für die aktuelle Problematik in der Pflege verantwortlich gemacht werden müssen. Dabei standen in erster Linie eine stärkere Liberalisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens im Vordergrund. Spätestens mit der Pflegeversicherung 1995/1996 sind Markt- und Wettbewerbselemente in die Pflege eingeführt worden, deren kontraproduktive Auswirkungen wir jetzt beobachten können.
Dabei wäre es naiv, der Christdemokratie den schwarzen Peter in die Schuhe zu schieben, auch sozialdemokratische Politik ist dafür verantwortlich zu machen. Denn bereits Mitte der 1990er Jahre hat die damalige rot-grüne Bundesregierung private Anbieter mit anderen Anbietern in der Pflege gleichgestellt. Und im gleichen Zeitraum hat sie spekulative Fonds auf dem deutschen Kapitalmarkt zugelassen. Und die Auswirkungen dieser politischen Fehlentscheidung sehen wir jetzt.
Finanzinvestoren sind aktiv
In der Sendung „Hart aber fair“ vom 11. Juni 2018 wurde darüber berichtet, dass 2017 bereits 40.000 Betten von Finanzinvestoren übernommen wurden. Aufgrund der Analyse von 400 Geschäftsberichten von Pflegeunternehmen durch das Leibnitz Institut für Wirtschaftsforschung, über die ebenfalls in der gleichen Sendung berichtet wurde, kann für das Jahr 2015 die Kapitalrendite im privat-erwerbswirtschaftlichen Pflegesektor auf 8,3 Prozent beziffert. Im Unterschied hierzu liegt der gleiche Wert im öffentlich-rechtlichen Pflegesektor bei 2,8 Prozent. Es lohnt sich also in die Pflege(heime) zu investieren, vor allem wenn man die Ausgaben für Personal auf 50 Prozent reduzieren kann; im öffentlich-rechtlichen Sektor liegen sie bei 62 Prozent.
Diese Entwicklung ist aber nur ein Zeichen für eine politische Großwetterlage, die im Zuge neoliberaler Politik zunehmend zur Durchkapitalisierung des Medizin- und Pflegesystems insgesamt geführt hat. Dabei ist klar: Misswirtschaft und Verschwendung waren nie zu legitimieren, auch vorher nicht! Und gegen effizientes Wirtschaften wird niemand etwas sagen können. Aber was wir jetzt sehen, ist eine Entwicklung, welches die moralischen Fundamente der Wohlfahrtspflege zu erodieren droht.
Professionellere Betriebe
Der Begriff der „Maschinisierung“ der Pflege erscheint durchaus angemessen, denn die Arbeitsverdichtung für das Personal ist derart vorangeschritten, dass für eine bewohnerintensive Zuwendungsarbeit nur noch sehr begrenzt Ressourcen verfügbar sind. Insgesamt gilt: Das Management der organisierten Altenhilfe mag im Hinblick auf Methoden der Betriebsführung insgesamt professioneller geworden sein – doch mit zunehmend erwerbswirtschaftlich ausgerichteten Unternehmenspolitiken sind ideelle und fachliche Bezüge zunehmend in die Defensive geraten.
Und wer trägt die Verantwortung für diese Entwicklung? Natürlich hat die Wohlfahrtspflege (auch die kirchlichen Einrichtungen) der Ökonomisierung nichts entgegengesetzt. Im Gegenteil: sie haben mitgemacht! Auch die Manager, die kommerziellen Betreiber, die Controller sind im Blick zu behalten. Aber all diese Akteure setzen nur das um, was die Politik entschieden hat. Hier muss angesetzt werden.
Verheiztes Engagement
Der bekannte Medizinethiker Giovanni Mai von der Universität Freiburg bringt es auf den Punkt: „Eine Umkehr kann es nur geben, wenn die Politik das Grundproblem erkannt hat. Gegenwärtig hat die Politik keinerlei Vision ... Das Problem ist der fehlende Geist einer weitsichtigen Politik; das Problem ist das Fehlen kluger neuer Konzepte in der Führungsregie der Verantwortung tragenden Parteien.“ Und das Drama ist, dass wir das hohe Engagement einer prosozial eingestellten jüngeren Generation (nur nicht von Pflegenden) verheizen, denn wir haben Strukturen geschaffen, die von Anfang darauf gerichtet sind, nur den Blick auf die Kosten, Effizienz und Machbarkeit zu richten, alles andere ist sekundär.
Es bedarf einer dringenden Umkehr hin zu einer sozialdemokratischen Wohlfahrts- und Altenpolitik. Dabei muss dieser Begriff parteienübergreifend verstanden werden. Grundlegend müssen fachliche, ethische und wirtschaftliche Aspekte in Einklang gebracht werden – ohne dass die erwerbswirtschaftliche Profitlogik dominiert und die Pflege zu einer Ware wird.
Kern der Humanität
Am Ende müssen wir die Frage beantworten: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Und wollen wir wirklich die Pflege und Sorge der uns anvertrauten alten, kranken und sterben Menschen finanziellen Kalküls überlassen, welche sie ausschließlich als Renditeobjekte im Fokus hat? An der Ausrichtung der Wohlfahrtspolitik – eben auch bezogen auf die ältere Generation – zeigt sich ein Kern der Humanität in unserer Gesellschaft, für den eine sozialdemokratische Politik immer eingetreten ist.
ist Professor am Lehrstuhl für Gerontologische Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar.