Inland

Nach Türkei-Referendum: Das Märchen von der „gescheiterten Integration“

Rund 750.000 Türken haben von Deutschland aus an Erdoğans Verfassungsreferendum teilgenommen – zwei Drittel haben „Ja“ gesagt. Sofort geht wieder das Gerede von der „gescheiterten Integration“ los. Das ist Unsinn und wird dem Problem nicht gerecht. Ein Kommentar.
von Paul Starzmann · 18. April 2017
Jubel in Berlin
Jubel in Berlin

Ein echter Wahlkrimi war das türkische Verfassungsreferendum am vergangenen Sonntag. Das äußerst knappe Ergebnis und die anschließenden Betrugsvorwürfe der Opposition sorgen seither für Schlagzeilen. Das Abstimmungsverhalten der türkischen Wähler aus Deutschland wurde dabei fast zur Randnotiz – obwohl sich hierzulande eine deutliche Mehrheit von rund 63 Prozent für die Abschaffung der Demokratie in der Türkei ausgesprochen hat.

Stehen die Deutschtürken mehrheitlich hinter Erdoğan?

In den sozialen Netzwerken sorgte das Abstimmungsverhalten der Deutschtürken schon während der Auszählung für Aufsehen. Als sich abzeichnete, dass in den Konsulaten in Frankfurt, Hannover oder Karlsruhe mehrheitlich mit „Evet“ – Ja – gestimmt wurde, forderten die ersten Twitter-User Konsequenzen: Wer in Deutschland lebe und für die neue türkische Verfassung gestimmt habe, solle am besten gleich in Richtung Türkei verschwinden, hieß es. Endlich gibt es einen guten Grund, um „Türken raus“ schreien zu dürfen, scheinen einige gedacht zu haben. Der angebliche Grund für Erdoğans Wahlsieg in Deutschland: „gescheiterte Integration“.

Aber stimmt das? Sind die meisten Türkeistämmigen in Deutschland tatsächlich „Evet’çiler“ – also Ja-Sager und AKP-Anhänger? Die Antwort lautet: Nein. In Deutschland leben rund 3,5 Millionen Menschen mit familiären Wurzeln in der Türkei. Circa 1,5 Millionen waren beim Referendum wahlberechtigt. Allerdings hat davon nur die Hälfte an der Abstimmung teilgenommen, wovon rund 63 Prozent für die Verfassungsänderung gestimmt haben. Das sind, wie der CDU-Politiker Ruprecht Polenz am Wochenende vorrechnete, ungefähr 450.000 Wähler – also nur rund 13 Prozent der Türkeistämmigen in Deutschland.

Das Szenario der „gescheiterten Integration“ ist rechte Stimmungsmache

Natürlich sind das fast eine halbe Million Erdoğan-Fans zu viel. Auch lässt sich nur den Kopf schütteln angesichts der Tatsache, dass so viele Menschen einerseits die Freizügigkeit der Demokratie in Deutschland genießen – und dieses Privileg andererseits ihren Freunden, Verwandten und Bekannten in der Türkei nicht gönnen. Aber das Abstimmungsverhalten in den türkischen Konsulaten als Beleg für eine angeblich „gescheiterte Integration“ zu nehmen, ist nicht mehr als rechte Stimmungsmache.

Genauso würde doch niemand ernsthaft behaupten, nach über 25 Jahren sei die Wende im Grunde gescheitert, nur weil bei Wahlen in Ostdeutschland derzeit die Anti-Demokraten der AfD Erfolge feiern. Es wäre lächerlich, aufgrund des zweistelligen Wahlergebnisses der AfD in Sachsen-Anhalt den Wiederaufbau der Mauer zu fordern. Auch würde niemand den Putin-Fans in der AfD ernsthaft die Auswanderung ins autokratische Russland nahelegen. Nein, billige Polemik à la „Geht doch nach drüben“ bringt nichts. Die Populisten vom rechten Rand – egal ob AKP oder AfD – müssen inhaltlich gestellt werden.

Schluss mit der gesellschaftlichen Spaltung

Die Frage ist, warum Erdoğans Kampagne in Deutschland erfolgreich war. Offenbar hat er bei manchen einen Nerv getroffen, als er ihnen sagte, die Deutschen hassten sie und ihren Glauben, den Islam. Jede Pegida-Demo, jeder AfD-Wahlerfolg schienen ihm dabei Recht zu geben. Auch spielte es dem türkischen Präsidenten in die Hände, dass es heute in Deutschland normal ist, über „den Islam“ als Gefahr zu reden. Wie jeder Populist profitiert Erdoğan von zwei Dingen: der Angst und der Spaltung der Gesellschaft.

Zwei Dinge können den Demagogen unserer Zeit Einhalt gebieten: Mut und Zusammenhalt. Mutig müssen wir eintreten gegen rechts-nationale Extremisten – egal ob sie von der AfD kommen, von der AKP, aus den Reihen der NPD oder den türkischen „Grauen Wölfen“. Außerdem geht uns dieser Kampf alle an. Wir brauchen Zusammenhalt statt eine Spaltung in „echte Deutsche“ und solche „mit Migrationshintergrund“. Dazu gehört es, die Realität der gesellschaftlichen Vielfalt im Einwanderungsland Deutschland nicht nur endlich zu akzeptieren, sondern sie als Stärke zu betrachten und zu feiern.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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