Inland

„Modell der Zukunft“

von Kai Doering · 24. Februar 2012

Viele Beschäftigte, die arbeitslos werden, erhalten kein Arbeitslosengeld – obwohl sie in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben. Die SPD-Bundestagsfraktion möchte das ändern. Wie, das erklärt die stellvertretende arbeitsmarktpolitische Sprecherin Angelika Krüger-Leißner im Interview mit vorwärts.de.

vorwärts: Jeden Monat fallen 60 000 Menschen von einer regulären Beschäftigung direkt in Hartz IV, statt Arbeitslosengeld I (ALG I) zu erhalten. Woran liegt das?

Angelika Krüger-Leißner: Sie scheitern schlicht und ergreifend an den Voraussetzungen, um Arbeitslosengeld I zu bekommen, die das Sozialgesetzbuch vorgibt. Hauptproblem ist die so genannte Rahmenfrist. Zurzeit sind das zwei Jahre. Innerhalb dieser Zeit muss ein Arbeitnehmer zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sein, um ALG-I-berechtigt zu sein. Das ist die so genannte Anwartschaft.

Gibt es weitere Hindernisse?

Ja. Für Menschen, die kurzfristig beschäftigt sind, gibt es eine zusätzliche Hürde für den Bezug von Arbeitslosengeld I. Seit August 2009 gilt eine Sonderregelung. Danach reicht eine Anwartschaft von sechs Monaten innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist. Allerdings müssen die Beschäftigungstage überwiegend aus bis zu sechswöchigen Beschäftigungen stammen. Wer sieben oder acht Wochen beschäftigt ist, erwirbt also keinen Anspruch. Zurzeit kommt ein Viertel aller Beschäftigten nicht in den Genuss von Arbeitslosengeld I, weil die Bedingungen der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Das müssen wir ändern. Es ist schließlich eine Frage der Gerechtigkeit, wenn jemand kein Arbeitslosengeld bekommt, obwohl er in die Versicherung eingezahlt hat.

Sie wollen die Rahmenfrist verlängern. Wären damit alle Probleme gelöst?

Die Verlängerung der Rahmenfrist, die die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag fordert, wäre eine gute Lösung für alle, die in Zeitarbeit sind, Kurzarbeit leisten, für Saisonarbeitskräfte und Praktikanten und das in allen Branchen. Die neue Regelung wird vielen helfen, weil sie in drei Jahren eine deutlich größere Chance haben, die notwendigen Zeiten zusammen zu bekommen. Daneben wollen wir die verkürzte Anwartschaft ohne jede Vorbedingungen beibehalten. Auch das wird dazu beitragen, die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung wieder zu stärken.

Ist es tatsächlich so schlecht um die Arbeitslosenversicherung bestellt? 

Aus meiner Sicht ist es bedenklich, wenn eine Versicherung nicht mehr allen Schutz bietet. Wenn 25 Prozent der Beschäftigten keine Leistungen erhalten, obwohl sie in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben, ist eine Grenze überschritten. Es stellt sich auch die Frage, ob ein solcher Zustand überhaupt verfassungsgemäß ist. Würde jemand dagegen klagen, wäre der Ausgang ungewiss.

Bezieht sich die Schutzfunktion allein auf die Rahmenfrist?

Nein, aber eine Verlängerung der Rahmenfrist ist ein erster großer Schritt zurück zu einem ausreichenden Schutz der Arbeitslosenversicherung. Wir haben damit die Chance, viele Menschen zurück in die Versicherung zu bringen. Der zweite Schritt, die Verkürzung der Anwartschaft auf ein halbes Jahr, ist besonders wichtig für die kurzfristig Beschäftigten. Nach unserem Antrag fallen entscheidende Hürden für den Zugang zum ALG I: Neben der Beschäftigungsdauer ist das die Einkommensgrenze. 

Am 1. August läuft die bestehende Regelung zur Anwartschaft aus. Wie groß ist der Druck zu handeln?

Der Handlungsdruck auf die Bundesregierung ist riesengroß. Es liegen zwei Monitoring-Berichte auf dem Tisch, die zeigen, dass die derzeitige Regelung wirkungslos ist und viel zu wenig kurzfristig Beschäftigte in den Genuss der Arbeitslosenversicherung gekommen sind. Im Verlauf eines Jahres waren es nur knapp 250 Personen. Das ist ein Witz. Die Bundesregierung steht nun vor der Wahl: Sie kann die bestehende, unzureichende Regelung verlängern oder eine neue Regelung zu fassen. Verschiedene Branchen haben schon deutlich ihre Erwartungen formuliert.

An wen denken Sie da?

Ich denke besonders an die Kreativwirtschaft und da an die Film- und Fernsehschaffenden. Mit letzteren haben wir auch zusammen gesessen und gemeinsam überlegt, wie wir die jetzt auslaufende Regelung verbessern können. Die Vorschläge haben wir auch mit verdi und der Bundesagentur für Arbeit besprochen.

Wie war die Reaktion?

Durch die Bank weg alle haben unseren Plänen zugestimmt. Alle sagen, unser Vorschlag sei das Modell der Zukunft.

Wenn die Zustimmung so groß ist: Warum wollen Sie dann die Bundesregierung beauftragen, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten und bringen ihn nicht selbst ein?

Die Bundesregierung hat bereits einen Gesetzentwurf angekündigt, der jedoch nach einhelliger Meinung vollkommen unzureichend ist. Unser Antrag ist ein Angebot, einen Kompromiss zu finden. Wenn Kulturstaatsminister Neumann, der erst bei der Berlinale wieder versprochen hat, mehr für die Künstler zu tun, und die Bundesregierung es ernst meinen, werden sie darauf eingehen. Alles andere wäre Augenwischerei. 

In erster Lesung ist Ihr Antrag im Bundestag bereits beraten worden. Wie geht es jetzt weiter?

Unser Antrag wird nun in den Ausschüssen beraten. Wir haben eine Anhörung beantragt, die voraussichtlich im April stattfinden soll. Wenn die Verbände das Thema öffentlich machen, können wir von verschiedenen Seiten Druck ausüben und so mehr erreichen als die läppischen Schritte, die die Bundesregierung machen möchte.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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