Mit Würselen-Deutsch für Europa
Der Taxifahrer wundert sich: „So viele Sicherheitsleute hier – ist der Bundespräsident zu Gast oder was?“ Nein, es ist nicht Joachim Gauck, für den hunderte Studierende der RWTH Aachen an diesem Mai-Mittwoch Schlange stehen. Sie wollen Martin Schulz sehen, Präsident des Europäischen Parlaments und – zu diesem Zeitpunkt noch designierten – Karlspreis-Träger. Die Diskussion mit den Studierenden in Aachen ist für Schulz ein Heimspiel, im Nachbarort Würselen war er schließlich ein Jahrzehnt lang Bürgermeister.
Auf dem Weg ins Audimax überlegt ein Student, ob Schulz wohl eine Art Einmarschmusik hat – er klingt, als würde ihm diese Idee gut gefallen. Martin Schulz, der Rockstar unter den EU-Politikern. Als Schulz den Raum betritt, gibt es zwar keine Musik, dafür aber donnernden Applaus und Blitzlichtgewitter. Fünfzehn Minuten lang spricht Schulz zum Publikum. Dass er den Internationalen Karlspreis zu Aachen bekomme, sei für ihn „eine rührende Angelegenheit“. Das war es dann aber auch mit der Sentimentalität, die Lage ist schließlich ernst, die Europäische Union „herausgefordert wie nie zuvor“. Die Idee der Union als eine des Friedens sei gefährdet. Deshalb brauche es nicht weniger, sondern mehr Europa.
Pragmatismus statt glänzender Rhetorik
Worte, wie sie auch viele andere europäische Politiker schon zigfach geäußert haben. Martin Schulz allerdings, dafür ist er bekannt, glänzt weniger durch seine Rhetorik, als vielmehr durch seinen Pragmatismus. Als Parlamentspräsident weiß er, wie schwierig es ist, politische Projekte umzusetzen – zumal, wenn die Abgeordneten aus 28 Mitgliedstaaten kommen und jeder einzelne davon eigene, nationale Interessen verfolgt.
Die Studierenden wollen deshalb ganz genau wissen, wie Schulz seine politische Agenda umsetzt. Sie fragen kritisch nach: Warum die EU so wenig für Flüchtlinge tut, zum Beispiel. Oder wie die Politik auf Extremismus und Islamophobie reagieren will. Ein Student fragt Schulz: „Wie kann man Ihnen vertrauen, dass auch was passiert?“. Dieser antwortet: „Ich bemühe mich, zu dem zu stehen, was ich sage.“ Zwischendurch rauscht und knackt das Mikrofon: „Das hätte jetzt auch die NSA sein können“, kommentiert Schulz unter dem Gelächter der Zuschauer.
Authentisch mit „Würselen-Deutsch“
Die Studierenden wollen nun über Wahlbeteiligung sprechen, die sei bei den Wahlen des Europäischen Parlaments ja ausbaufähig. Zumindest für Deutschland hat Martin Schulz eine Erfolgsgeschichte parat: „Hier ist die Wahlbeteiligung bei der letzten Europawahl um fünf Prozentpunkte gestiegen. Darauf bin ich stolz, weil ich glaube, dass ich daran beteiligt war.“ Breites Grinsen, das Publikum applaudiert. Schulz ist kein Angeber – aber er steht selbstbewusst zu seinen Erfolgen. In diesem Fall der Einführung von Spitzenkandidaten auf europäischer Ebene, einer Personalisierung der EU-Politik.
Oft würden die Leute über Politiker sagen: „Ihr seid alle gleich, man kann euch nicht unterscheiden. Ihr habt alle den gleichen Sound, die Sprache, die ihr sprecht, ist nicht meine.“ Bei ihm, davon ist Schulz überzeugt, ist das anders – was auch daran läge, dass er eine klare Sprache spreche: „Oft wird mir dann der Vorwurf der Plattheit gemacht.“ Er selbst nennt das „Würselen-Deutsch“. Lautes Gejohle.
„Leidenschaftlicher Europäer mit Herz und Verstand“
Tatsächlich hat sich Schulz mit seiner direkten und selbstbewussten Art im Europaparlament viele Gegner gemacht. Legendär ein Vorfall 2010, als der britische Europaabgeordnete Godfrey Bloom Schulz mit den Worten unterbrach „Ein Volk, ein Reich, ein Führer.“ Schulz steckt sowas nicht nur locker weg, er sieht es sogar als Ansporn. Sigmar Gabriel sagt anlässlich der Verleihung des Karlspreises an Schulz: „Martin Schulz ist ein leidenschaftlicher Europäer mit Herz und Verstand, der es wie kaum ein Zweiter versteht, die Idee und die Werte Europas überzeugend zu vermitteln. Niemand verteidigt das Friedensprojekt Europa leidenschaftlicher und energischer gegen seine Kritiker als Martin Schulz.“ Seit er 2012 Präsident des EU-Parlaments wurde, kämpft Schulz vor allem dafür, dieser Institution die Macht zu geben, die ihr laut Verträgen zusteht. Er ist unbequem, er ist laut, er ist fordernd. Er handelt.
Das soll auch das junge Publikum in Aachen begreifen. Deshalb erzählt Schulz eine Geschichte, nämlich die über sein Handy. Dieses Handy stammt laut Aussage Schulz‘ noch aus dem letzten Jahrtausend und hat eine Ladezeit von 36 Stunden. Schulz hat mindestens so viel Spaß daran, die Geschichte zu erzählen wie die Studierenden daran haben, sie zu hören. Schulz berichtet: „Oft wundere ich mich, warum meine Kollegen und Kolleginnen gebückt durch die Gegend laufen. Ich sage dann immer: Ihr könnt aufrecht stehen, ihr müsst euch nicht vor mir verbeugen!“ Kurze Kunstpause: „Die verbeugen sich aber nicht vor mir, die suchen nach Steckdosen, um ihre Handys aufzuladen.“ Die Moral von der Geschichte könnte in etwa lauten, dass viel Zeit für Unsinn verschwendet wird – während Schulz sich lieber um wichtige Dinge kümmert.
Ja, er kokettiert und das kann schnell peinlich wirken. Tut es aber nicht, weil Schulz über ausreichend Selbstironie verfügt: „Ich mag kein Smartphone 4 oder 5 haben, trotzdem reklamiere ich für mich, ein moderner Mensch zu sein.“ Die Zuhörer lachen – und zücken ihre Smartphones, um den Moment fotografisch festzuhalten.
Appell an die Studierenden
Trotz aller Kritik sind sich Studierende und Parlamentspräsident einig: Europa, das ist eine gute Sache, für die es sich zu kämpfen lohnt. Dies wird umso deutlicher, als sich gegen Ende der Veranstaltung eine ihrer Selbstaussage zufolge „politisch interessierte Bürgerin“ zu Wort meldet. Sie ist älter als der Rest des Auditoriums – und sie macht sich Sorgen. Sorgen darum, dass so viele Menschen aus dem Kosovo nach Deutschland kämen, wo doch im Kosovo selbst gar kein Krieg herrsche. Sorgen darum, was das für Deutschlands Wohlstand bedeute. Das junge Publikum scheint sich zu fragen, was jetzt eigentlich das Problem ist – dass es Deutschland gut geht, oder dass andere, ärmere Menschen auch davon profitieren wollen? Kollektives Kopfschütteln. Schulz antwortet, wie auch bei den Fragen zuvor, ausführlich. Eine gewisse Irritation ist ihm jedoch anzumerken – Unverständnis darüber, dass die Frau seinen Aufruf zu „Mehr Europa“ nicht begreifen will. Oder kann.
Nach einer rauschhaften Stunde ist Schulz‘ Auftritt vorbei, weiter geht es zum nächsten Termin rund um den Karlspreis. Vorher hat der Parlamentspräsident aber noch einen Appell an die Studierenden: „Sie müssen nicht in die Politik gehen. Um Gottes Willen, lassen Sie das bleiben! Aber kommen Sie Ihrer zivilen Pflicht nach, die demokratischen Grundwerte zu verteidigen.“ Donnernder Applaus, Blitzlichtgewittert. Und weg ist er, dieser Mann ohne Smartphone, aber mit jeder Menge Argumenten für das europäische Projekt – vorgetragen im schönsten Würselen-Deutsch.