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Michael Müller: Zeit für eine neue soziale Agenda

Mit seinem Vorschlag für ein „Solidarisches Grundeinkommen“ hat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller eine Debatte um Hartz IV ausgelöst. In diesem Beitrag beschreibt er seine Idee, sagt aber auch, dass sie nicht die einzige Antwort sein könne.
von Michael Müller · 25. April 2018
Michael Müller
Michael Müller

Die Agendapolitik sollte 2003 die deutsche Wirtschaft wieder konkurrenzfähig machen und den Arbeitsmarkt unter dem Schlagwort „fördern und fordern“ flexibler gestalten. Krise und hohe Arbeitslosigkeit wurden überwunden. Aber das hatte seinen Preis: Die Gesellschaft und natürlich auch die deutsche Sozialdemokratie führt seit 2003 eine Gerechtigkeitsdebatte über die Agenda-Politik. Gleichzeitig hat die SPD in den letzten 15 Jahren große Teile ihrer Wählerschaft verloren.

Zeit für etwas Neues

Und: Anstatt zurück müssen wir nach vorne schauen und auf die jetzt anstehenden Herausforderungen von Digitalisierung und Automatisierung reagieren. Die Instrumente von 2003 – einer Zeit ohne Smartphones und iPads – werden hier nur bedingt helfen. Es geht um neue und andere Antworten. Wir müssen jetzt eine neue soziale Agenda erarbeiten, die unsere sozialen Sicherungssysteme fit für die vierte industrielle Revolution macht.

Darin braucht eine zukunftsfähige Gesundheitspolitik die Bürgerversicherung, in die alle nach ihren finanziellen Möglichkeiten einzahlen. Dazu gehört auch eine garantierte Mindestrente, die Erwerbsbrüche abfedert und Altersarmut verhindert. Und wir müssen endlich mehr Chancengleichheit im Bildungssystem durch kostenlose Bildung von der Kita bis zur Uni erreichen. Herzstück dieser neuen sozialen Agenda aber müsste mindestens eine zukunftsfähige Ergänzung und Veränderung des ALG II sein.

Eckpfeiler für ein Solidarisches Grundeinkommen

Ich habe dafür Anfang November im Vorfeld meiner Amtszeit als Bundesratspräsident in einem Grundsatzartikel zum Thema „Digital und Sozial“ unter anderem den Vorschlag eines „Solidarischen Grundeinkommens“ gemacht. Mittlerweile hat die Diskussion um diesen Vorschlag und damit auch über Hartz IV an Fahrt aufgenommen. Über diesen Diskurs müssen wir weiter ermitteln, wie viel Bereitschaft es in Politik und Gesellschaft zu einem grundlegenden Umbau von Teilen unseres Sozialsystems gibt.

Dazu sollten wir zunächst prüfen, ob wir nicht zukünftig bereits beim Übergang von ALG I in ALG II ein Arbeitsangebot unterbreiten können, um so nicht nur Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern, sondern auch die Angst zu nehmen vor dem Absturz in Hartz IV. Ein System, das vielfach als ungerecht empfunden wird – auch, weil es die eigene Lebensleistung nicht ausreichend berücksichtigt und Sanktionen einsetzt, sobald man nicht flexibel genug auf Angebote und Maßnahmen reagiert.

Nicht die einzige Antwort

Das Solidarische Grundeinkommen kann keine alleinige Antwort auf die durch die Digitalisierung zusätzlich wegfallenden Arbeitsplätze sein. Aber es kann einen neuen Solidarpakt begründen zwischen der Gesellschaft und den arbeitsuchenden Menschen. Um etwas Neues zu entwickeln, was auch Erfahrungen aus früheren Konzepten wie ABM aufgreift, sehe ich folgende Grundpfeiler für ein Solidarisches Grundeinkommen:

  1. Die Arbeit muss wie jedes Arbeitsverhältnis freiwillig aufgenommen werden. Wer keine Tätigkeit wahrnehmen kann oder will, verbleibt weiter in Grundsicherung.
  2. Es muss sich um „gesellschaftliche“ Tätigkeiten handeln, die vorher kommunal nicht finanzierbar waren, damit keine reguläre Arbeit verdrängt wird.
  3. Die Arbeit muss regulär und sozialversicherungspflichtig sein und in der Regel von kommunalen oder landeseigenen Unternehmen angeboten werden.
  4. Die mindeste Entlohnung ist der Mindestlohn.
  5. Die Tätigkeiten sind – abgesehen von den üblichen Probezeiten – unbefristet. Es werden aber parallel Umschulungs- und Qualifizierungsangebote unterbreitet, um das System durchlässig zu machen.
  6. Die Steuerung und Vermittlung erfolgt über die Arbeitsagenturen oder Jobcenter. Deren Hauptaufgabe wird es somit sein, kommunale Arbeitsangebote und Arbeitssuchende zusammen zu bringen.

Lebenslanges Lernen

So können wir die kommunale Daseinsvorsorge um gesellschaftlich sinnvolle Arbeit erweitern: zum Beispiel in Vereinen, für Mobilitätseingeschränkte, bei kommunalen Wohnungsbaugesellschaften oder in der Flüchtlingsintegration.

Gleichzeitig aber müssen wir bei sich ständig wandelnder Arbeit unsere Forderung nach lebenslangem Lernen endlich umsetzen. Die Idee von Andrea Nahles, ein „Chancenkonto“ für jeden Erwerbstätigen zu Beginn seiner Arbeitslaufbahn anzulegen, weist den richtigen Weg und sollte intensiv mit diskutiert werden. Hier sind vor allem die Arbeitgeber gefragt, die letztendlich bei zunehmendem Fachkräftebedarf von den Qualifizierungen profitieren.

Solidarisches Grundeinkommen ist bezahl- und umsetzbar

Abschließend stellt sich natürlich die Frage der Finanzierung. Dazu müssen die zurzeit anfallenden Kosten für Hartz IV und Verwaltung der Arbeitslosigkeit gegengerechnet werden mit mehr sozialen Dienstleistungen, Einzahlung in die Sozialkassen und auch Erlangung von eigenen Rentenansprüchen.

Das Solidarische Grundeinkommen ist für die Gemeinschaft schon jetzt bezahl- und umsetzbar. In einer Studie hat das DIW die notwendigen Kosten für einen Single und eine alleinerziehende Mutter errechnet, die über die anfallenden Hartz-IV- und Verwaltungskosten zusätzlich gesellschaftlich aufzuwenden wären.

Anfang des Diskurses

Nimmt man an, dass im Durchschnitt jährlich zusätzliche Kosten in Höhe von 5.000 Euro je SGE-Stelle für den Staat entstehen (nach Abzug zusätzlicher Steuer- und Beitragseinnahmen), wäre bei 150.000 Geförderten mit Kosten in Höhe von 750 Millionen im Jahr zu rechnen. Das ist durchaus leistbar wie zum Beispiel auch die im Koalitionsvertrag vereinbarten 4 Milliarden Euro bis 2021 für ein soziales Arbeitsmarktprogramm zeigen.

Wir stehen am Anfang eines Diskurses zu mehr Arbeit und Solidarität jenseits von Hartz IV. Dieser muss ergebnisoffen und vorurteilsfrei geführt werden. Es geht um ein Recht auf Arbeit für die Menschen, die heute und in Zukunft fester Bestandteil der arbeitenden Gesellschaft sein und sich soziale Teilhabe und Anerkennung erarbeiten wollen, die wir ihnen heute leichtfertig verweigern.

Autor*in
Michael Müller

ist Mitglied im Auswärtigen Aussschuss des Bundestags. Zuvor war er Regierender Bürgermeister von Berlin.

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