vorwärts.de: Herr Schwartze, wie fühlen Sie sich als Kummerkasten der Nation?
Stefan Schwartze: Ich denke, der
Petitionsausschuss ist mehr als der Kummerkasten der Nation. Es geht nicht nur um die Probleme oder den Kummer des
Einzelnen, sondern vor allem um große gesellschaftspolitische Fragen und um ein Grundrecht.
Gefällt Ihnen das Bild des Seismografen für gesellschaftliche Veränderungen besser?
Ja, das passt schon. Der Petitionsbereich zeigt sehr früh an, wo in der Gesetzgebung handwerklich etwas schief gelaufen ist, wo sich Menschen und ihr Alltag nicht wieder finden. Das Zweite
ist, dass sich in den Petitionen, die bei uns eingehen, auch gesellschaftliche Veränderungen bemerkbar machen. Das sind häufig Probleme, die die Politik noch gar nicht erfasst hat, die die
Menschen aber betreffen.
Fällt Ihnen ein Beispiel ein?
Vor einiger Zeit gab es viele Anfragen zur Patientenverfügung. In diesem Bereich fehlte ja lange ein rechtlicher Rahmen. Der Druck aus der Bevölkerung auf die Politik, ein bestehendes
Problem zu lösen, war also groß. Die Petitionen sind ins parlamentarische Gesetzgebungsverfahren mit eingeflossen. Und der Bundestag hat mit dem
Gesetz zur Patientenverfügung schließlich eine Lösung gefunden.
Was ist für Sie das Besondere an der Arbeit im Petitionsausschuss?
Durch die vielen persönlichen Schicksale, die man im Petitionsausschuss kennenlernt, wird die politische Arbeit ein ganzes Stück praktischer. Man lernt ein unheimlich breites Spektrum an
politischen Themen kennen - vom Güterverkehr bis zur Berufsunfähigkeitsrente. Dadurch ist man ganz nah bei den Menschen und ihren Problemen. Vor allem lernt man die praktischen Auswirkungen der
Gesetzgebung kennen. Das ist für mich das Spannende an der Arbeit.
Müssen Sie sich eigentlich mit jeder Petition befassen, die im Ausschuss eingeht oder ist das von der Zahl der Unterschriften abhängig?
Hier wird alles gleich behandelt. Die Vorgänge sehen alle gleich aus, egal, ob es sich um eine öffentliche Petition handelt oder um ein persönliches Anliegen. Jede Petition ist uns gleich
wichtig. Manchmal machen wir auch für Einzelpetitionen einen Anhörungstermin, wenn wir das Gefühl haben, dass etwas massiv schief gelaufen ist.
Wer hat das Recht, eine Petition einzureichen?
Jeder, wirklich jeder. Es geht nicht darum, die deutsche Staatsbürgerschaft zu haben oder volljährig zu sein. Im Moment überlegt die SPD-Bundestagsfraktion, wie man ein eigenes
Petitionsportal für Kinder und Jugendliche einrichten könnte. Auch Schulklassen sind für uns sehr interessant. Dort entstehen häufig gute Ideen zum gesellschaftlichen Zusammenleben. Warum sollte
man die nicht als Petition an den Bundestag weiterreichen? Das gibt es zwar jetzt auch schon - aber noch viel zu selten.
Wo sehen Sie die Rolle des Petitionsausschusses in der parlamentarischen Demokratie?
Die Rolle des Petitionsausschusses ist im Laufe der Zeit deutlich aufgewertet worden. Mit der öffentlichen Petition und der Online-Petition erreichen wir seit einigen Jahren eine viel
breitere Öffentlichkeit als früher. Für mich ist die Möglichkeit, beim Bundestag eine Petition einzureichen, die einzige Form direkter Demokratie, den wir auf Bundesebene in Deutschland haben.
Wer eine öffentliche Petition startet und in der vorgegebenen Zeit 50 000 Unterschriften sammelt, kann dem Petitionsausschuss sein Anliegen in öffentlicher Anhörung vortragen. Dadurch sind schon
öfter Themen, die in der öffentlichen Wahrnehmung gar keine große Rolle gespielt haben, richtig hochgekommen. Paradebeispiel ist die
Petition gegen das Gesetz zu den Internetsperren. Durch den großen öffentlichen Druck - gerade durch die
Petition, der es gelungen war, in kürzester Zeit über 100 000 Unterschriften zusammen zu bekommen - kam es schließlich dazu, dass ein untaugliches Gesetz gar nicht mehr angewendet wird und die
Bundesregierung nun an einem Nachfolgegesetz arbeitet.
Aus Ihrer Sicht also ein Erfolg des Petitionsausschusses?
Nein, nicht des Petitionsausschusses, sondern ein Erfolg der Bürger. Wir bieten den Menschennur die Möglichkeit, für ihre Interessen einzutreten. Ein großes Thema der letzten Wochen war
z.B. die
Petition der Hebammen (zum Umgang mit einer massiven Erhöhung der Haftpflichtversicherungsbeiträge für den Berufsstand Anm. d. Red.),
denen es gelungen ist, innerhalb kürzester Zeit 120 000 Unterschriften im Internet zu sammeln und zusätzlich 70 000 Faxe und Briefe zu schicken. Das zeigt, dass die Bürger über uns die
Möglichkeit haben, ihre Anliegen zum Thema zu machen. Noch direkter ginge das nur über Volksentscheide...
...die ja auf Bundesebene nicht möglich sind. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin der Meinung, dass Volksentscheide auch auf Bundesebene möglich sein sollten. Allerdings darf man sich da nicht im Kleinklein verlieren. Über die großen und wichtigen Themen sollten
die Bürger aber einen Volksentscheid herbeiführen dürfen.
Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahren, gleichzeitig nimmt die Anzahl der Petitionen zu. Wie erklären Sie sich das?
Die Menschen sind sehr sensibel für konkrete gesellschaftliche Probleme und sie suchen nach Möglichkeiten, diese zu lösen. Was früher hauptsächlich über die Parteien lief, übernehmen heute
immer mehr Bürgerinitiativen und andere Organisationen. Die Bürger wollen direkt auf ein Problem aufmerksam machen. Sie haben das Gefühl, sie müssen ein Thema selbst in die Hand nehmen und können
nicht auf andere warten. Ihre Verdrossenheit richtet sich in erster Linie gegen Parteien und Personen und nicht gegen die Themen, die dahinter stehen. Im Petitionsausschuss können sie ihr Problem
selbst nach vorn bringen und wir haben dann die Aufgabe, uns damit zu beschäftigen. Für viele ist das Einreichen einer Petition der erste persönliche Kontakt mit den demokratischen Instanzen.
Interview: Kai Doering
Stefan Schwartze (Jahrgang 1974) ist seit 2009 Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Herford - Minden-Lübbecke II. Er ist Mitglied im Petitionsausschuss sowie im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.