Lieferkettengesetz: Das Wirtschaftsministerium muss seine Verschiebetaktik aufgeben
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Bei der Jahrespressekonferenz von „Brot für die Welt“ haben Sie vor einer neuen Hungerkrise wegen der weltweiten Corona-Pandemie gewarnt. Wie hängen das Virus und der Hunger zusammen?
Viele Länder des globalen Südens haben angesichts mangelnder Möglichkeiten, der Corona-Pandemie mit den üblichen Präventionsmethoden Herr zu werden oder Infizierte zu heilen, sofort einen rigorosen Lockdown verhängt, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Der Warenverkehr, das öffentliche Leben, Verdienstmöglichkeiten kamen so komplett zum Erliegen. Dies hat vor allem die Menschen besonders hart getroffen, die im informellen Sektor tätig sind – laut Internationaler Arbeitsorganisation ILO 60 Prozent der arbeitenden Weltbevölkerung. Tagelöhner, Straßenverkäuferinnen oder Haushaltshilfen – sie hatten von jetzt auf gleich kein Einkommen mehr. Bauern und Bäuerinnen konnten zur Aussaat oder Ernte nicht mehr auf ihre Felder, ihre Erzeugnisse nicht mehr auf den Markt bringen, Märkte wurden geschlossen. Kein Einkommen bedeutet für Millionen Menschen Hunger, denn sie haben keine Ersparnisse und keinen Zugang zu sozialer Sicherung, also nicht nur keine Krankenversicherung, sondern auch kein Arbeitslosen- oder gar Kurzarbeitergeld.
Die Welternährungsorganisation FAO geht davon aus, dass sich durch die Corona-Pandemie in diesem Jahr die Zahl der Menschen, die an chronischem Hunger leiden, verdoppeln wird, um bis zu 132 Millionen Menschen. Eine neue Hungerkrise steht der Welt bevor.
Wegen der Pandemie haben europäische Unternehmen Waren, die bereits bestellt und zum Teil sogar schon produziert waren, von Herstellern in Asien oder Afrika nicht abgenommen – und natürlich auch nicht bezahlt. Wie ist das möglich?
Es ist möglich, weil Lasten in globalen Lieferketten extrem ungerecht verteilt sind. In der Modeindustrie ist es so, dass die Ware erst 60 bis 90 Tage nach Erhalt bezahlt wird und die Zulieferbetriebe in Ländern des globalen Südens für die Produktion in Vorleistung gehen müssen. In der Corona-Krise nutzen große Modeunternehmen dieses Verfahren, um ihre eigenen finanziellen Einbußen durch die Ladenschließungen auf die Zulieferbetriebe abzuwälzen. Dadurch haben sie riskiert, dass die Betriebe ihre Beschäftigten nicht mehr bezahlen können, sondern sie von einem auf den anderen Tag ohne Fristen oder gar Abfindung entlassen. Wenn Unternehmen ihre globale Verantwortung für die Menschen, die für sie produzieren, ernst nehmen und sich für deren Arbeitsbedingungen, Arbeitsrechte und faire Löhne – wie auch für die Menschenrechte und die Umwelt im Umfeld ihrer Produktionsstätten – interessieren würden, könnte so etwas nicht geschehen. Sie sollten ihre Verantwortung sicher nicht so leicht auf ihre Zulieferunternehmen in Asien oder Afrika abschieben können. Deshalb braucht es dringend ein Lieferkettengesetz, das Unternehmen auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten dazu anhält, verantwortungsvoll zu handeln.
Die Bundesregierung will im Herbst einen Gesetzentwurf vorlegen. Worauf kommt es dabei an?
Wir erwarten, dass die Koalition ihre Verabredung aus dem Koalitionsvertrag einhält, in dieser Legislaturperiode ein Lieferkettengesetz zu verabschieden und dass das Wirtschaftsministerium seine Verschiebetaktik auf Einrede der Unternehmensverbände aufgibt. Dazu müssten die Beratungen im Kabinett dann auch wirklich kommende Woche stattfinden! Ein solches Gesetz sollte unbedingt auch die zivilrechtliche Haftung klären. Der Entwurf tut das in der harmlosest möglichen Form. Ohne Sanktionsmöglichkeiten bliebe das Gesetz ein zahnloser Tiger. Letzten Endes soll das Gesetz regeln, dass menschenrechtliche und umweltrechtliche Sorgfaltspflichten entlang der gesamten Lieferkette gelten – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wir appellieren mit unserer Initiative, die mehr als 220.000 Menschen unterstützen, auch an das Selbstverständnis deutscher Unternehmen und sind froh, dass auch mehr als 60 deutsche Unternehmen selbst das Gesetz fordern – im Gegensatz zu ihren Verbandsvertretern.
Die bisher bekannt gewordenen Vorschläge der Bundesminister Hubertus Heil und Gerd Müller tragen auch den Interessen der Unternehmen Rechnung. So müssen sie nicht für Schäden haften, wenn sie zuvor versucht haben, diese zu vermeiden. Zudem sind Unternehmen, die sich an staatlich anerkannte Branchenstandards halten, in den Eckpunkten von einer möglichen Haftung für fahrlässiges Verhalten ausgenommen. Keine Rede also davon, dass deutsche Unternehmer dadurch ständig mit einem Bein im Gefängnis stünden oder von Verarmung bedroht wären.
Manche Unternehmen befürchten trotzdem durch das Gesetz eine weitere Belastung neben den bestehenden durch die Coronakrise. Was sagen Sie denen?
Das eine hat mit dem anderen erst einmal nichts zu tun. Für Unternehmen hat die Bundesregierung in der Coronakrise weitreichende Unterstützungsmaßnahmen beschlossen. Die Forderung nach einem Lieferkettengesetz hat Fahrt aufgenommen, als 2013 beim Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch mehr als 1000 Menschen starben und anschließend die sklavenartigen Arbeitsbedingungen endlich ans Licht kamen. Diese Katastrophe hat bei vielen Unternehmen ein Umdenken bewirkt.
Das Lieferkettengesetz soll in erster Linie präventiv wirken. Es ist kein Gesetz gegen Unternehmen wie manchmal behauptet wird. Das Gesetz kommt Unternehmen entgegen, die bereits menschenrechtliche und andere Sorgfaltspflichten einhalten. Unser Ziel ist es, dass für alle Unternehmen dieselben Regeln gelten, damit die, die ihre Verantwortung wahrnehmen, nicht benachteiligt werden, sondern Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle gelten.
Kann ein nationales Lieferkettengesetz genug bewirken oder braucht es nicht eher Regelungen auf europäischer Ebene?
Für einen wirksamen Menschenrechtsschutz in der Weltwirtschaft sind Regelungen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene nötig. Auf all diesen Ebenen wird momentan konkret über die Einführung von rechtlichen Vorgaben diskutiert. Die EU-Kommission hat für Anfang 2021 einen Vorschlag für eine Lieferketten-Regelung angekündigt, und auf Ebene der Vereinten Nationen gibt es bereits seit 2014 einen Prozess für ein UN-Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten. Alle diese Prozesse sind aber langwierig. Wenn Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas nicht nur selbst ein Lieferkettengesetz verabschiedet, sondern sich während seiner EU-Ratspräsidentschaft gemeinsam mit den Vorreitern Frankreich und den Niederlanden massiv für eine europäische Regelung einsetzt, wäre das ein sehr wichtiger Impuls für internationale Regelungen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.