Inland

Leistungen für Asylbewerber

von Dirk Farke · 18. Juli 2012

Die bisherigen Leistungen für Asylsuchende und Kriegsflüchtlingen sind menschenunwürdig. Dies hat das Bundesverfassungsgericht entschieden und den Lebensbedarf vorerst selbst festgelegt. Dieser liegt allerdings weiter unter dem Hartz-IV-Niveau

Wenn bereits vier Wochen nach einer mündlichen Verhandlung die Karlsruher Verfassungshüter ihr Urteil verkünden, muss schon ein ganz gravierender Verfassungsverstoß vorliegen. Wenn sie darüber hinaus zum härtesten Mittel greifen, das ihnen ihr Richteramt zugesteht, nämlich ein Gesetz auszusetzen und gleichzeitig selbst eine Übergangsregelung zu erlassen, erteilen sie der Bundesregierung damit eine Nachhilfestunde in Sachen verfassungskonformer Gesetzesanwendung. Am heutigen Mittwoch ist es genau so gekommen.

„Der Senat hat entschieden, dass die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz das vom Grundgesetz geforderte menschenwürdige Existenzminimum evident verfehlen. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich eine verfassungsgerechte Neuregelung zu treffen“, machte BVG-Vizepräsident Ferdinand Kirchof in seiner Einführung zur Urteilsbegründung unmissverständlich deutlich. Darüber hinaus ordnete das Gericht an, dass bis zur Neuregelung Leistungen gewährt werden, die sich durch eine Anwendung des Regelbedarfsermittlungsgesetzes in seiner jeweils aktuellen Fassung ergeben.

Hartz-IV-Satz als Orientierung

Diese Bestimmung ist nach dem Hartz-IV-Urteil des Zweiten Senats aus dem Februar 2010 von der schwarz-gelben Bundesregierung aus dem Hut gezaubert worden, um einen möglichst niedrigen Leistungssatz für Langzeitarbeitslose zu rechtfertigen. Damit hat das Gericht nun klargestellt, dass sich eine zukünftige gesetzliche Neuregelung zum Leistungsbezug von Asylsuchenden und Flüchtlingen am Harz-IV-Niveau zu orientieren hat.

Wie sich bereits in der mündlichen Verhandlung vom 20. Juni andeutete (www.vorwaerts.de/Politik/inland/73486/ein_bisschen_hunger.html), stellen die Richter in ihrer Urteilsbegründung heraus, dass ein um durchschnittlich 40 Prozent geringerer Leistungsbezug als ihn ein Harzt-IV-Betroffener erhält, nicht ansatzweise ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten kann. Das menschenwürdige Existenzminimum – und auch an dieser Stelle der Urteilsbegründung berufen sich die Richter wieder auf das Hartz-IV-Urteil – sei ein Grundrecht, wie es unsere Verfassung zu gewährleisten zwingend vorschreibe. Dieses Grundrecht aber gelte – und hier geht das gestrige Urteil über die Hartz-IV-Entscheidung hinaus – nicht nur für Deutsche, sondern für alle Personen, ergo auch für Asylbewerber, sobald sie sich in Deutschland aufhielten.

Eine „evidente Verfassungswidrigkeit“ ergibt sich für die Verfassungshüter ferner daraus, dass ein realitätsgerechter Bedarf für Asylsuchende nie ermittelt worden ist. Der Gesetzgeber habe diesen Bedarf lediglich „ins Blaue hinein geschätzt“. Trotz einer seit 1993 etwa dreißigprozentigen Preissteigerung sei die Geldleistung nie geändert worden und verfehle damit evident die Anforderungen des Grundgesetzes, so die Karlsruher Richter.

Entschädigungsregelung ist nicht konsequent

Auch die bloße Behauptung eines Minderbedarfs wegen angeblich „fehlender Integrationsbedürfnisse“, sei nicht ansatzweise belegt und diene nur dazu, Einreiseanreize zu vermeiden. „Einreise zu verhindern“, heißt es in der Urteilsbegründung weiter, „kann von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen, denn die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“.

So ganz am Hartz-IV-Satz wollte der Zweite Senat sich bei der Festlegung der Höhe der Übergangsregelung aber dann doch nicht orientieren. Ein allein lebender, erwachsener Asylbewerber oder Kriegsflüchtling erhält nun 336 Euro (Hartz-IV-Betroffene bekommen 374 Euro) statt bisher 224; ein Kind zwischen 15 und 18 Jahren kann nun mit 260 Euro (Hartz-IV-Kinder in diesem Alter erhalten 287 Euro) statt mit den bisher gewährten 200 Euro rechnen.

Auch die Anordnungen des Senats, die die Erstattungsbeträge, die von Betroffenen rückwirkend geltend gemacht werden können, betreffen, sind nicht konsequent. Wenn man, wie dies der Zweite Senat in seinem Urteil unmissverständlich klar gestellt hat, die Höhe der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz von Anfang an für verfassungswidrig hält, müsste man den Betroffenen auch für den gesamten Zeitraum, in denen ihnen von verschiedenen Regierungen ein menschenwürdiges Existenzminimum vorenthalten worden ist, eine Entschädigung zubilligen – und nicht erst ab Januar 2011 für noch nicht bestandskräftig gewordenen Entscheidungen.

Reaktionen auf das Urteil

„Dieses Urteil ist ein Sieg der Menschlichkeit und gleichzeitig eine schallende Ohrfeige für die politisch Verantwortlichen, die jahrelang die Augen vor den Lebensbedingungen von Asylbewerbern verschlossen haben.“ Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands

„Es ist sehr schade, dass erst das Gericht die Regierung zum Handeln zwingen muss. Im nächsten Schritt liegt es nun am Gesetzgeber, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen und den Zugang zum allgemeinen Grundsicherungssystem zu gewähren“, AWO-Vorstandsmitglied Brigitte Döcker

„Ich begrüße das Urteil des Bundesverfassungsgerichts außerordentlich. Es kann jedoch nur ein erster Schritt sein. Die Bundesregierung muss die Unterstützung für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und Geduldete von Grund auf reformieren.“ Aydan Özoguz, stellvertretende SPD-Vorsitzende

  „Es ist nunmehr dringend notwendig, so sorgfältig und so zügig wie möglich ein schlüssiges Verfahren zur Berechnung der künftigen Leistungen für die Betroffenen zu entwickeln.“ Maria Böhmer, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung

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