Inland

Leben von 670 Euro?

von Susanne Dohrn · 20. Juni 2013

Stütze trotz jahrzehntelanger Arbeit: Immer mehr Rentner sind auf Grundsicherung angewiesen. Die Tendenz ist steigend

Helga Aulich hat sich hübsch gemacht. Die lila Bluse passt gut zu den lackierten Fingernägeln. Die Wohnung ist picobello und so adrett wie die 81-Jährige selbst. Für den Fotografen lächelt sie ohne Scheu. „Das bin ich gewohnt“, sagt die Berlinerin stolz. Für das Rote Kreuz hat sie Werbung gemacht und für den Verein „Freunde alter Menschen“, der ihr selbst oft geholfen hat. Das war alles ehrenamtlich. Dann gab es aber auch die bezahlten Fotos für ein edles Seniorenwohnprojekt. Das sie sich selbst natürlich niemals leisten könnte. Helga Aulich bekommt Grundsicherung vom Sozialamt. 171 Euro. Weil die Rente von 670 Euro nicht zum Leben reicht. Und das nach einem Leben voller Arbeit. 

100 Euro mehr bedeuten viel

Helga Aulich hatte von Anfang an Pech. Sie war jung mitten im Krieg, wenn überhaupt hat sie vier Jahre Grundschulbildung. Nicht genug für eine solide Ausbildung. Also hat sie alles gemacht, was möglich war und Geld brachte: in der Säuglingspflege, bei einer Druckerei, in einer Konfektfirma, als Prüferin bei Telefunken, bei Grundig, als Verkäuferin und schließlich bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Zwei Kinder hat sie großgezogen, am Ende alleine. 670 Euro. Das lehrt Bescheidenheit. Ihre neuesten Kleidungsstücke sind acht Jahre alt, auch die lila Bluse. Neue Schuhe bräuchte sie dringend. Die verkneift sie sich. Nur beim Essen spart sie nicht, isst, worauf sie Lust hat. Seit einem Jahr bekommt Helga Aulich 100 Euro zusätzlich von einer Stiftung. Davon hat sie sich ein neues Bett gekauft, nachdem das alte Konsolenbett eines Tages runtergekracht ist. Und hat im Flur Laminat legen lassen, weil sie mit ihrem Rollstuhl immer an der Auslegeware hängen blieb. Für beides hat sie länger gespart. Aber das Schönste war, als sie an einer Drei-Tagesfahrt nach Rheinsberg teilnehmen konnte. Organisiert und bezahlt von den „Freunden alter Menschen“. Nur das Essen muss man selbst zahlen. Deshalb konnte sie früher nie teilnehmen, das Geld hatte sie einfach nicht. Diesmal aber schon. „Es war ein tolles Gefühl, selbst etwas zahlen zu können und niemanden bitten zu müssen.“ Ihr Lächeln wird zum Strahlen. Dann wird sie wieder ernster: „Manchmal denke ich, Du hast so viel gearbeitet und jetzt hast Du so wenig Geld, das bedaure ich.“

Mindestlohn gegen Altersarmut 

„Die Rente ist ein brutales Spiegelbild des Erwerbslebens“, sagt Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. „Was nicht erreicht worden ist an Zeiten der Erwerbstätigkeit und an Lohn kann später nicht aufgefangen werden.“ SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles formuliert es so: „Armut im Alter ist das Resultat von Armut im Erwerbsleben.“ 

Beide fordern deshalb Mindestlohn, als ein Instrument gegen Armut vor und während der Rente. Dass Instrumente nötig sind, zeigt die Statistik: Die Zahl der Empfänger von Grundsicherung im Rentenalter steigt seit ihrer Einführung vor zehn Jahren stetig, auf 844 000 Menschen im Jahr 2011. Das waren laut Statistischem Bundesamt 5,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Zwar ist nicht klar, ob tatsächlich die Zahl armer Rentner steigt, oder ob mehr arme Rentner sich trauen, Hilfen zu beantragen. Das Ergebnis bleibt das gleiche. 

Die Zahl der Grundsicherungsempfänger, wie Helga Aulich eine ist, scheint im Verhältnis zu der Gesamtzahl von 20,6 Millionen Rentnern gering. Experten sehen dennoch einen bedrohlichen Trend. „Man muss eine Dunkelziffer hinzurechnen, die lieber zu Tafeln geht oder sich sonst irgendwie durchschlägt, als Grundsicherung zu beantragen“, sagt VdK-Präsidentin Mascher. Weiter müsse die wachsende Zahl von arbeitenden Rentnern gesehen werden. „Und ich meine nicht den Ingenieur oder die Sprechstundenhilfe, die in ihrem alten Beruf arbeiten“, so Mascher. Besorgniserregend sind aus Sicht des Sozialverbandes die Minijobber im Rentenalter, die putzen gehen, als Nachtwächter arbeiten, Zeitungen austragen oder bei Sicherheitsfirmen Geld dazuverdienen. 800 000 Menschen über 64 Jahre waren 2012 geringfügig beschäftigt. 

Frauen, die Problemfälle 

Mehr als die Hälfte von ihnen waren Frauen, die Problemfälle unter den Alten. Kommen sie aus Westdeutschland, haben sie oft lange Jahre „nur“ als Hausfrau gearbeitet, kommen sie aus Ostdeutschland, waren sie nach der Wende oft arbeitslos.  Im Ergebnis haben beide große Lücken in ihren Rentenansprüchen. Und bei beiden gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie als Teilzeitkraft wenig verdient haben. 

Gleichzeitig gibt es neue „Risikogruppen“. Laut Alterssicherungsbericht der Bundesregierung von 2012 erhalten ehemals Selbstständige doppelt so oft Grundsicherung wie ehemals abhängig Beschäftigte. Betroffen sind außerdem Leiharbeiter, die meist viel weniger verdienen als regulär angestellte Kollegen.
Und dann sind da noch die heute Jungen: Die müssten eigentlich ordentlich Geld für´s Alter beiseite legen, sei es per staatlich gefördertem Riester, Lebensversicherung oder Sparstrumpf. Laut einer Infratest-Studie wissen das auch 90 Prozent der 17- bis 27-Jährigen. Allein, nur 38 Prozent handeln auch danach. Die Gründe sind unterschiedlich. Einige hoffen einfach auf gut bezahlte Jobs in der Zukunft, viele misstrauen den Anlagemöglichkeiten, und diejenigen, die niedrige Schulabschlüsse oder gar keine haben, verdienen nicht genug zum Sparen. 

„Diese Generation ist strukturell von Altersarmut bedroht“, sagt der Leiter der Studie, der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann.

Wer arbeitet 45 Jahre durch?

Ein weiteres Problem, das sich in Zukunft verschärfen wird, ist das insgesamt veränderte Erwerbsleben. 30, 40 Jahre am Stück angestellt sein, vielleicht sogar im gleichen Betrieb – das galt noch für einen Teil der heutigen Rentner. Die heutigen Arbeitnehmer jedoch haben eine andere Realität. Häufige Firmenwechsel, Pausen und Zeiten der Arbeitslosigkeit sind inzwischen üblich. Jede Auszeit bringt jedoch Abzüge bei der Rente mit sich. 

Zwar ist immer noch von der „Eckrente“ als Maßstab die Rede. 2030 wird sie laut Rürup-Kommission und Deutscher Rentenversicherung bei 1024 Euro liegen. Ob sie überhaupt für eine nennenswerte Gruppe erreichbar sein wird, ist allerdings fraglich. Die Eckrente ist nämlich die gesetzliche Altersrente eines Beschäftigten, der 45 Jahre lang durchgängig duchschnittlich verdient hat, nämlich 30 000 Euro im Jahr. Das gelingt längst nicht mehr allen.

Welche Auswirkungen niedrige Löhne und Lücken in der Erwerbstätigkeit auf die Rente haben, zeigt folgendes Rechenbeispiel: Ein 29-jähriger Arbeiter verdient 7,50 Euro die Stunde, damit kommt er auf 1237 Euro im Monat. Nach zehn Jahren wird er arbeitslos. Ein Jahr lang erhält er Arbeitslosengeld I, dann Arbeitslosengeld II. Inzwischen hat er wieder einen Job und verdient 8,50 Euro, bzw. 1400 Euro im Monat. Arbeitet er ohne weitere Pausen bis zum Alter von 67 Jahren durch, erhält er eine Rente in Höhe von 678 Euro, Inflationsausgleich eingerechnet. Er hätte sein Leben lang einbezahlt und müsste trotzdem Grundsicherung im Alter beantragen. 

Das Rentenkonzept der SPD

In solche Situationen sollen Arbeitnehmer künftig nicht mehr kommen, verlangt die SPD. Und will deshalb die „Solidarrente“ einführen. Der Arbeiter aus dem Beispiel würde 850 Euro Rente bekommen. Diese Solidarrente soll verhindern, dass langjährig Versicherte nach 30 Beitragsjahren auf staatliche Fürsorge angewiesen sind.

Brücken in die Rente bauen 

Viele Arbeitnehmer werden es auch nicht schaffen, bis zur Rente Vollzeit zu arbeiten. Und dabei geht es nicht nur um Krankenschwestern oder Dachdecker, die häufig wegen körperlicher Überbelastung frühzeitig aus dem Beruf ausscheiden. Auch Angestellte können mit 60 oft nicht mehr den Anforderungen des Berufes Stand halten. Ihnen will die SPD einen flexibleren Übergang ermöglichen. Arbeitnehmer sollen schon mit 60, statt wie bisher mit 63 Jahren, in die so genannte Teilrente gehen können. 

Heute gibt es drei Möglichkeiten:
1. Teilzeit-Arbeit. Dem muss allerdings der Arbeitgeber zustimmen. Außerdem verringert sich die spätere Rente.
2. Vorgezogene Altersrente mit 63 Jahren. Dabei gibt es aber Abschläge in Höhe von 0,3 Prozent für jeden Monat, den der Arbeitnehmer früher in Rente geht. Ein Beispiel: Wer 1100 Euro Rente erhalten sollte, bekäme dann nur noch 900 Euro. Er dürfte allerdings 450 Euro dazuverdienen.
3. Eine Teilrente ab 63 Jahren. Das wären  bei obigem Zahlenbeispiel 500 Euro Rente plus die Möglichkeit bis zu 1800 Euro brutto dazuzuverdienen. 

Mit 60 in Teilrente

Mit dem Rentenmodell der SPD hätten Arbeitnehmer mehr Möglichkeiten, kürzer zu treten und gleichzeitig ihre Einkommens- und Renteneinbußen zu begrenzen. Sie könnten schon mit 60 Jahren in Teilrente gehen. Wer rund 1100 Euro volle Rente hat, bekäme dann ab 60 eine halbe Teilrente von 400 Euro. Weil weiterhin Rentenbeiträge gezahlt werden, begrenzen sich die Einbußen. Und ab 65 Jahren  gibt es dann immer noch rund 1 000 Euro. 

Das SPD-Konzept geht jeodch noch weiter. Bislang gibt es starre Zuverdienstgrenzen für Teilrenten. Geht der Verdienst über die Grenze hinaus, wird die Teilrente gekürzt. Das bietet weder einen Anreiz, mehr dazu zu verdienen, noch berücksichtigt es den Wunsch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nach flexibleren Arbeitsmöglichkeiten.

Deshalb will die SPD die Teilrente flexibler gestalten. Die Hinzuverdienstgrenzen können wegfallen, so dass schwankende Verdienste in der Teilzeit nicht zur Rentenkürzung führen. „Nicht jeder Rentenzugang passt für alle, aber für alle muss es einen passenden Rentenzugang geben“, so das Ziel der SPD. Und wer nach einem langem Arbeitsleben in Rente geht, wie Helga Aulich, sollte nicht auf Unterstützung vom Staat angewiesen sein müssen, sondern – etwa mit der Solidarrente – genug Rente für ein sorgenfreies Leben bekommen. Das auch ist eine Frage des Respekts.

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Susanne Dohrn

ist freie Autorin und ehemalige Chefredakteurin des vorwärts.

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