Koalitionsvertrag: „Ein eigenes Ostkapitel ist nicht notwendig“
U. Grabowsky/photothek.net
Frau Geywitz, Sie wohnen in Potsdam, sitzen für die SPD im Landtag von Brandenburg und sind Mitglied des SPD-Parteivorstands. Ostdeutschland hat im Koalitionsvertrag der Bundesregierung jedoch keinen eigenen Schwerpunkt bekommen. Ist die Vereinbarung für Ostdeutschland daher ein Rückschritt?
Ach was. In Ostdeutschland wird wie in anderen Teilen der Welt geliebt und gelebt, investiert und geforscht, fließen die Bäche und drehen sich die Windräder. Deswegen ist ein eigenes Ostkapitel nicht notwendig. Wo es bei uns regionale Besonderheiten gibt, etwa beim Braunkohleabbau, müssen diese von der neuen Bundesregierung beachtet werden, so wie in anderen Landesteilen auch.
Welche Punkte im Koalitionsvertrag halten Sie aus ostdeutscher Perspektive für besonders wichtig?
Ich persönlich freue mich am meisten über die bundesweit einheitliche Mindestausbildungsvergütung. Das ist das Signal an die jungen Menschen im Osten, dass sie – anders als ihre Eltern und Großeltern – nicht die bittere Erfahrung von grundsätzlich niedrigeren Löhnen als im Westen machen müssen. Hart erstritten war auch der Härtefallfonds im Rentenrecht. Damit werden spezielle Ungerechtigkeiten in vielen Einzelfällen beseitigt. Viel Hoffnung verbinde ich mit unserem Programm für 150.000 Menschen im „sozialen Arbeitsmarkt“. Das verbessert die Chancen für viele, die vom Aufschwung und von der Hochkonjunktur bislang nicht profitieren.
Welche Punkte fehlen Ihnen im Vertrag? Was muss noch getan werden?
Man muss den Ostländern die Chance auf stärkeres Wirtschaftswachstum geben, sonst können sie den strukturellen Rückstand zu den starken Westregionen niemals aufholen. Das muss jeder im Bund als politische Aufgabe begreifen, denn diese Aufgabe löst man zuerst mit politischem Willen – dann folgt das Geld von allein. Das Bundesverkehrsministerium zum Beispiel könnte noch einige politische Kraft umschichten. 2018 dauert die Zugfahrt von Berlin nach Breslau und Stettin länger als vor 100 Jahren in der Weimarer Republik. Das ist der CSU in München vermutlich egal, aber für ganz Ostdeutschland verschenken wir hier riesige Entwicklungspotenziale. Auch in der Energiepolitik machen sich reiche Westregionen einen schlanken Fuß auf Kosten des Ostens. Bei uns stehen x-fach mehr Windräder als in Bayern und Baden-Württemberg, die Ost-Unternehmen und Ost-Konsumenten bekommen dafür auch noch höhere Netzentgelte und höhere Strompreise aufgebrummt.
Noch immer unterscheiden sich die Lebensverhältnisse zwischen West und Ost. Der Koalitionsvertrag unterscheidet jedoch nicht nach Himmelsrichtungen, sondern in strukturschwache und strukturstarke Regionen. Was halten Sie davon?
Das ist absolut richtig. Den Osten gibt es genauso wenig wie den Westen. Ich wohne in Potsdam. Da kann ich jetzt nicht ernsthaft behaupten, dass es den Menschen dort schlechter geht als in Duisburg oder Gelsenkirchen. Aber natürlich sind viele Gegenden Ostdeutschlands noch immer weniger leistungsstark als der Westen der Republik. Deswegen braucht es weiter eine gezielte Förderung von strukturschwachen Regionen – aber in allen Teilen Deutschlands.
Zuletzt gab es Diskussionen über den Anteil ostdeutscher Politiker in der Bundesregierung. Neben Bundeskanzlerin Merkel kommt nur Familienministerin Franziska Giffey aus Ostdeutschland. Das ist zu wenig, oder?
Ein Bundeskabinett sollte auch personell alle Teile der Bevölkerung repräsentieren. Das gilt für Männer und Frauen, für Ostdeutsche, aber auch für Menschen mit Migrationshintergrund. Die finden sich im neuen Kabinett leider gar nicht wieder. Dabei könnten wir dies angesichts der zentralen Aufgabe für eine bessere, gelingende Integration gerade jetzt gut brauchen.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider sagte kürzlich, die Ostdeutschen bräuchten eine persönliche Ansprache und Repräsentation. Wie sehen Sie das? Wie muss eine solche Ansprache aussehen?
Ihre Frage klingt wie: Muss der Jammer-Ossi immer noch mit Samthandschuhen angefasst werden? Da muss ich kräftig gegenhalten. Wir brauchen keine politischen Sozialarbeiter für die kollektive Traumatherapie. Und das hat Carsten Schneider auch nicht gemeint. Sehr viele Ostdeutsche haben die Herausforderungen, die sich nach der Wende gestellt haben, sehr stark gemacht. Es geht darum: Sie wollen bei politischen Entscheidungen ihre Erfahrungen aus der Zeit vor oder nach der Wende einbringen können. Und zwar die guten und die schlechten. Für die einen waren die 80er Jahre Brokdorf damals gab es Demonstrationen gegen das Atomkraftwerk, d. Red., saurer Regen und Schwarzwaldklinik. Im anderen Teil Deutschlands schaute man gebannt auf die Entwicklung in Polen und Ungarn, überlegten Familien, einen Ausreiseantrag zu stellen, starben Menschen an der Mauer. In einem wirklich geeinten Deutschland müssen auch diese Geschichten und Sichtweisen Platz und Respekt haben. Die Neugier auf diese Menschen und ihre Geschichten könnte sich in den Medien und in den Salons der Republik durchaus noch etwas steigern.