Klima und Corona: Die Katalysatoren der Ungleichheit
KAY HERSCHELMANN
Herr Hirschel, in Ihrem Buch „Das Gift der Ungleichheit“ fordern Sie mehr Umverteilung, wollen Reiche stärker belasten und Geringverdiener*innen entlasten. Wie realistisch sind solche Forderungen in Krisenzeiten?
Das 21. Jahrhundert droht ein Jahrhundert der extremen Ungleichheit zu werden. In allen Industrieländern nahm die Einkommens- und Vermögensungleichheit in den vergangenen drei Jahrzehnten stark zu. Die ehemaligen Dompteure des Kapitalismus - Gewerkschaften und Sozialdemokratie - scheinen ihr Handwerk verlernt zu haben. Die wachsende soziale Spaltung ist politisch gemacht. Unternehmen und Politik haben menschliche Arbeit entwertet und entgrenzt. Der Ausbau des Niedriglohnsektors, die Förderung prekärer Beschäftigung und ein verschärfter Erwerbsarbeitszwang – Hartz IV - schwächten die Verhandlungsmacht der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Gleichzeitig erhielten Spitzenverdiener, Unternehmen und Vermögende Steuergeschenke. Diese politischen Entscheidungen vertieften die Kluft zwischen Arm und Reich. Folglich haben wir es auch in der Hand, das zu ändern, auch in Krisenzeiten.
Kann die Corona-Krise also sogar eine Chance sein, den Trend umzukehren?
In der Corona-Krise wächst die Ungleichheit. Beschäftigte verlieren ihren Job, Kurzarbeiter müssen auf Einkommen verzichten und viele kleine Selbstständige erzielen keine Einnahmen mehr. Von ungleichen Bildungschancen und einem Rückfall in überholte Formen geschlechtlicher Arbeitsteilung ganz zu schweigen. Gleichzeitig steigen die Vermögen derjenigen, die Aktien, Anleihen, Rohstoffe oder Immobilien besitzen. Zwar konnten Olaf Scholz und Hubertus Heil die negativen sozialen Folgen der Krise durch eine gute Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik abfedern. Kurzarbeit verhindert Massenarbeitslosigkeit und das Konjunkturpaket hilft der heimischen Wirtschaft schnell auf die Beine. Trotzdem verschärft die Krise erst einmal den Trend zu mehr Ungleichheit. Entscheidend ist nun, welche politischen Lehren wir aus der Krise ziehen.
Also Reiche und Vermögende in Deutschland stärker besteuern und damit sind alle Probleme gelöst?
Unser zentrales Problem ist die erste Runde der Einkommensverteilung, die so genannte Primärverteilung. Seit Jahrzehnten wachsen die Unternehmen- und Vermögenseinkommen stärker als die Arbeitseinkommen. Die Lohnquote – der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen - liegt heute unter dem Niveau des Jahres 2000. Diese Schieflage ist einer durch nationale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geschwächten gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht geschuldet. Natürlich haben auch Globalisierung, Digitalisierung und die Vorherrschaft der Finanzmärkte dazu beigetragen, dass die Gewerkschaften weniger durchsetzen konnten.
Diese Megatrends sind aber nicht vom Himmel gefallen. Sie sind Produkt politischer Entscheidungen. Erschwerend hinzu kommt: Was in der ersten Runde der Einkommensverteilung schiefläuft, kann der Sozialstaat nur mühsam mittels Steuern, Abgaben und Transfers korrigieren. Zudem ließ die umverteilende Wirkung des Sozialstaats nach. Eine stärker umverteilende Steuer- und Transferpolitik ist somit wichtig. Das allein reicht aber nicht aus: Wir müssen die Verhandlungsmacht der Beschäftigten verbessern, indem wir Tarifverträge stärken, den Mindestlohn erhöhen, prekäre Beschäftigung zurückdrängen, soziale Berufe aufwerten und Hartz IV überwinden.
Gleichzeitig fordern Umweltbewegungen eine Abkehr von der Wachstumspolitik, die in der Vergangenheit ja gute Einkommen ermöglicht hat, zum Beispiel in der Automobilindustrie.
Die ökologische Transformation darf nicht zur Sterbehilfe für die Industrie werden. Die Stahl-, Auto- und Grundstoffproduktion muss umwelt- und klimafreundlicher werden. Der ökologische Umbau wird aber nur gelingen, wenn er sozial gestaltet wird. Industriearbeit war aufgrund gewerkschaftlich gut organisierter Belegschaften in der Regel gut entlohnte, sozial abgesicherte und mitbestimmte Arbeit. In der Solar- und Windindustrie, in Biosupermärkten und in vielen Dienstleistungsbranchen gibt es hingegen häufig keine Tarifverträge und Betriebsräte. Das muss sich ändern.
Wie kann das gelingen?
Die Umwelt- und Klimabewegung sollte gemeinsam mit den Gewerkschaften dafür streiten, dass die grünen Jobs tariflich entlohnt, sozial abgesichert und mitbestimmt sind. Gleichzeitig dürfen Gewerkschaften nicht an Strukturen festhalten, die den Raubbau an der Natur fortsetzen. Der Verbrennungsmotor und die Kohle haben keine Zukunft. Der motorisierte Individualverkehr muss perspektivisch schrumpfen.
Im Mittelpunkt eines „Green New Deal“ sollte ein grünes Zukunftsinvestitionsprogramm stehen. Der öffentliche Nah- und Fernverkehrs und die erneuerbaren Energien müssen ausgebaut, die Industrieproduktion klimaneutral umgebaut und der ökologische Landbau gestärkt werden. Bezahlt werden sollte die grüne Investitionsoffensive von Topverdienern und Vermögenden. Die ökologische Frage ist eine Verteilungsfrage: Die reichsten zehn Prozent der Haushalte verbrauchen dreimal so viel CO2 wie das ärmste Zehntel. Die Reichen leben in großen Wohnungen, fahren große Spritfresser, fliegen häufiger und konsumieren mehr.
Die jetzt geplanten Investitionen werden vor allem über Schulden finanziert – entsteht da nicht eine neue Ungerechtigkeit?
Nein! Wir sollten öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit, Verkehrsinfrastruktur und Klimaschutz jetzt über Kredite finanzieren. In Zeiten historisch niedriger Zinsen bekommt der Finanzminister das Geld fast geschenkt. Das ist auch gerecht, da so künftige Generationen, die von modernen Schulen und Krankenhäusern profitieren, an deren Finanzierung beteiligt werden. Mittelfristig brauchen wir aber eine breitere Steuerbasis und mehr Steuergerechtigkeit, indem wir große Einkommen und Vermögen höher besteuern, wie Olaf Scholz es jetzt gefordert hat.
Beim Mitgliederentscheid um den Parteivorsitz haben Sie Olaf Scholz noch kritisiert.
Seitdem hat sich viel verändert. Der Olaf Scholz aus dem Herbst 2019 stand für „schwarze Null“ und Schuldenbremsen. Die Corona-Krise ging darüber hinweg. In der Krise verwandelte sich Olaf in einen waschechten Keynesianer. In den 2000er Jahren war Olaf ein Vorkämpfer, der von mir kritisierten Agenda-Politik. Heute vertritt er aber eine arbeitnehmerorientierte Politik. Er wirbt für eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, für eine höhere Tarifbindung, für einen Mindestlohn von 12 Euro und für mehr reguläre Beschäftigung. Damit korrigiert er Fehler der Vergangenheit. Darüber hinaus hat Olaf Scholz immer wieder betont, dass er sich in den Dienst der Partei stellen will. Das nehme ich ernst.
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