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Kerstin Griese zur Sterbehilfe: Keine Werbung für begleiteten Suizid

Das Urteil zur Sterbehilfe des Bundesverfassungsgerichts hat hohe Wellen geschlagen. Die Politik muss nun eine neue Regelung des Paragrafen finden, der alte wurde von der Justiz als verfassungswidrig aufgehoben. Kerstin Griese ist eine der Abgeordneten, die dagegen kämpfen, dass der begleitete Suizid zu einer normalen Dienstleistung wird.
von Benedikt Dittrich · 3. März 2020
„Es sollte immer und zuallererst um Fürsorge gehen“, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese über die Debatte zur Sterbehilfe.
„Es sollte immer und zuallererst um Fürsorge gehen“, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese über die Debatte zur Sterbehilfe.

Kerstin Griese, Sie haben 2015 für ein Verbot der begleiteten Sterbehilfe gestimmt. Wie bewerten Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Nein, das ist nicht richtig. Ich bin gegen ein Verbot der begleitenden Sterbehilfe, wenn diese durch Angehörige, einen behandelnden Arzt oder durch andere nahestehende Menschen angeboten wird. Das 2015 mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit beschlossene Gesetz sah lediglich ein Verbot des geschäftsmäßigen assistierten Suizids vor, wie er beispielsweise von Sterbehilfevereinen als Dienstleistung angeboten wird. Dass das Verfassungsgericht dieses Verbot aufgehoben hat, respektiere ich selbstverständlich, aber ich bin schon enttäuscht. Ich mache mir Sorgen über die Auswirkungen. Wir haben damals im Bundestag verschiedene Gesetzesentwürfen mit großem Ernst in mehreren Anhörungen mit vielen Fachleuten debattiert. Ich habe selber mit Medizinerinnen und Medizinern, mit Hospizmitarbeitenden sowie Betroffenen gesprochen, denn wir wollten Menschen schützen, die unter Druck gesetzt werden könnten. Wir haben uns das nicht leicht gemacht, die Strafbarkeit des absichtlichen geschäftsmäßigen assistierten Suizids einzuführen.

Von welchem Druck sprechen Sie dabei?

Von dem Druck, dem Betroffene in extremen Lebenslagen ausgesetzt werden könnten, wenn ihnen der assistierte Suizid als vermeintlich einfache Lösung angeboten würde. Es gab damals bedenkliche Entwicklungen, vor allem durch bestimmte Sterbehilfevereine. Deswegen finde ich es natürlich schade, dass das Gericht zwar unsere Sorgen ausdrücklich für legitim erklärt hat, aber der Argumentation, die nach intensiver Diskussion eine breite Mehrheit im Parlament gefunden hat, nicht gefolgt ist. Das hat mich irritiert.

Warum?

Ich war bisher der Überzeugung, dass es ein Recht auf Leben gibt und der Suizid selbstverständlich nicht strafbar ist, auch die Beihilfe zum Suizid nicht. Das wollten wir auch nie ändern. Aber ich finde nicht, dass man für die Beihilfe zum Suizid werben dürfen sollte und dass man sogar ein Recht darauf definieren sollte.

„Urteil hat die Türen weit aufgemacht“

Geht jetzt also die Debatte wieder von vorne los?

Darüber offen zu sprechen ist immer gut. Das nimmt Menschen, die am Ende ihres Lebens sind, die Ängste. Das Urteil hat jetzt aber die Türen sehr weit aufgemacht. Ich will nicht, dass der begleitete Suizid eine quasi normale Dienstleistung ist. Das sollte nicht in eine Reihe gestellt werden mit anderen ärztlichen Leistungen oder gar Angeboten von Nicht-Fachleuten. Zuallererst sollten die Hilfe, die gute medizinische Versorgung und die Verbesserung der Pflege im Mittelpunkt stehen.

Gibt es denn zwischen diesen beiden Themen, dem Wunsch nach einem begleiteten Suizid und der Qualität der medizinischen Versorgung, einen Zusammenhang?

Ein überwiegender Teil der Suizidwünsche wird von Menschen geäußert, die in psychischen Ausnahmesituationen oder dement sind. Fast immer vergeht der Wunsch auch wieder, wenn Hilfe garantiert ist, wenn die Linderung der Schmerzen geleistet wird, wenn man offen darüber sprechen kann und wenn die Einsamkeit beendet wird. Das Verfassungsgericht hat sich eigentlich nur auf die sehr wenigen Ausnahmefälle bezogen, die sich dann immer noch einen assistierten Suizid wünschen.

Hat sich Ihre Meinung im Vergleich zu 2015 geändert?

Das Gericht hat sehr ausführlich unsere Gründe für das Gesetz gewürdigt und sie sogar bestätigt. Dass die Sorge legitim ist, dass Menschen unter Druck gesetzt werden könnten. Insofern halte ich die Beweggründe für die gesetzliche Regelung, die der Bundestag 2015 beschlossen hat, weiterhin für richtig. Aber das Gericht hat nun entschieden, dass der Paragraf 217 des Strafgesetzbuches zu viele Unsicherheiten geschaffen hat. Grundsätzlich ist es aber eine neue Dimension, dass das Gericht ein Recht auf Beihilfe zum Suizid definiert hat.

Welche Regelungen könnte es denn da geben?

Ich muss mich mit dem Urteil und der 155 Seiten langen Begründung noch genauer auseinandersetzen und mit den anderen Abgeordneten beraten. Ich hielte es zum Beispiel für sehr problematisch, wenn der assistierte Suizid auch für Kinder und Jugendliche gilt. Außerdem halte ich es für ethisch nicht tragbar, psychisch kranken Menschen den assistierten Suizid zu ermöglichen. Das halte ich für sehr bedenklich. Denn solche Erkrankungen können immer gelindert werden und sind oft heilbar.

„Sollte zuallererst um Fürsorge gehen“

Auf was kommt es Ihnen bei der neuen Debatte jetzt an?

Wir müssen uns ernsthaft mit einer grundsätzlichen Frage beschäftigen: Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass es immer mehr Menschen gibt, die sehr alt werden und länger pflegebedürftig sind? Es sollte immer die erste Aufgabe sein, eine gute medizinische Versorgung sowie beste Palliativangebote bereitzustellen. Deshalb brauchen wir auch dringend mehr Hospizplätze. Immer mehr Menschen fühlen sich im Alter einsam, auch das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der assistierte Suizid darf dabei als Lösung nicht an erster, auch nicht an zweiter oder dritter Stelle stehen. Es sollte immer und zuallererst um Fürsorge gehen.

Und was immer noch zu wenig bekannt ist: Schon heute ist die palliative Sedierung erlaubt, also dass ein Patient unter Einsatz von starken Medikamenten ohne Schmerzen und mit guter Begleitung verstirbt. Der ethische Unterschied ist, dass das Leiden gemindert wird und die Menschen beim Sterben begleitet werden und nicht zum Sterben hingeführt werden.

Könnte sich nun, fünf Jahre später, in der SPD-Fraktion eine einhellige Meinung zur Sterbehilfe bilden?

Das ist kein Thema, zu dem man als Fraktion eine einzige Meinung haben kann und muss. Das ist eine Gewissensfrage, und deswegen müssen wir uns dem Druck auch nicht aussetzen, dazu eine einhellige Meinung zu haben. Es sind Sternstunden des Parlaments, wenn Abgeordnete über Fraktionsgrenzen hinweg zu einer Mehrheit kommen. Das ist auch der Sozialdemokratie würdig, denn auch bei uns gibt es natürlich unterschiedliche Weltanschauungen und Traditionen. Wichtig ist mir, dass die Selbstbestimmung der Betroffenen gewahrt wird und wir so viel wie möglich im gesundheitspolitischen Bereich tun, um Menschen am Ende ihres Lebens gut zu helfen, sie zu unterstützen und nicht allein zu lassen.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs hat 2015 ebenfalls über die Sterbehilfe abgestimmt – und sich gegen ein Verbot ausgesprochen. Ihm war die Regelung deutlich zu restriktiv, erklärt er im Gespräch.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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