„Kein Grund zur Entwarnung“: Heiko Maas fordert in Solingen mehr Mitmenschlichkeit
„Mensch, Solingen – Viele Kulturen, eine Stadt!“ steht auf einem riesigen Plakat gleich über dem Eingang des Rathauses. Am Dienstagvormittag treffen sich hier einige hundert junge Leute, um an den rassistischen Anschlag vor 25 Jahren auf das Haus der aus der Türkei stammenden Familie Genç zu erinnern: Fünf Frauen und Mädchen im Alter zwischen vier und 27 Jahren kamen dabei am 29. Mai 1993 in der Unteren Wernerstraße 81 uns Leben. Ein Ereignis, welches die Stadt bis heute in Atem hält.
Mevlüde Genç: „Solingen ist meine Heimat“
Zu dem Gedenkmarsch haben die Bezirksschülervertretung und der Jugendstadtrat aufgerufen. Er setzt sich in Gang, bevor die offiziellen Gedenkveranstaltungen am Mahnmal beim Mildred-Scheel-Berufskolleg in der Solinger Beethovenstraße und in der Düsseldorfer Staatskanzlei beginnen. Aus manchen Schulen beteiligen sich ganze Klassen. Andere haben ihren Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eingeräumt, sich vom Unterricht befreien zu lassen. Zum Zeitpunkt des Anschlags waren die Teilnehmer noch nicht geboren. Aber sie wollen ein Zeichen setzen gegen Rassismus und Gewalt in einer Stadt, in der 160.000 Menschen aus 140 Nationen leben.
Und das scheint mehr als nötig: Denn im Vorfeld des Gedenktages hat die AfD in Solingen in einer unerträglichen Presseerklärung den rechtsextremen Hintergrund des Anschlags angezweifelt und Mevlüde Genç und ihren Mann verunglimpft. Jene Mevlüde Genç, die bei dem feigen Anschlag zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte verlor und dennoch unmittelbar danach zu Versöhnung und Verständigung aufgerufen hat. Das tut sie bis heute. Sie ist nach dem furchtbaren Erlebnis in Solingen geblieben, besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und wirbt unermüdlich für Versöhnung. „Solingen ist meine Heimat“, sagt die 75jährige. Der Hass müsse überwunden werden.
Heiko Maas: Gewalt entsteht im Kopf
Mevlüde Genç und ihr Mann haben sich am Dienstagmittag in Düsseldorf mit Kanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidenten Armin Laschet getroffen. Wenige Stunden später betreten sie die Bühne vor dem Mildred-Scheel-Berufskolleg und nehmen auf zwei einfachen Klappstühlen Platz. Sie werden begrüßt vom deutschen und vom türkischen Außenminister, Heiko Maas und Mevlüt Çavuşoğlu. Die beiden haben wenige Minuten zuvor auf einer kleinen Grünfläche gleich neben der Schule an einer Gedenkstätte Blumen niedergelegt.
Als Solingens sozialdemokratischer Oberbürgermeister Tim Kurzbach am Nachmittag mit dem offiziellen Teil der Gedenkfeier beginnt, verdüstert sich der Himmel. Kurze Zeit später zucken die ersten Blitze über das Gelände und es beginnt sintflutartig zu regnen. Und so findet die Veranstaltung, die im Vorfeld für intensive Diskussion gesorgt hatte, ein abruptes Ende. Heiko Maas und Mevlüt Çavuşoğlu kommen erst gar nicht zu Wort. Angesichts der am 24. Juni anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei war befürchtet worden, der türkische Außenminister könnte seinen Auftritt in Solingen zu Wahlkampfzwecken missbrauchen. Jetzt steht in seinem vorab verteilten Redemanuskript zu lesen, man müsse „eine Lehre aus dem Solinger Brandanschlag ziehen“. Aus „Respekt vor dem Schmerz der Familie Genç“ dürfe dieser Jahrestag nicht mit politischen Debatten belastet werden.
Im freigegebenen Redeentwurf von Heiko Maas ist zu lesen, dass „es keinen Grund zur Entwarnung“ gebe. Er erinnert daran, dass immer noch „Brandsätze in Moscheen fliegen, junge Männer mit Kippa auf offener Straße angegriffen oder Homosexuelle, die Hand in Hand gehen, zusammengeschlagen werden.“ Gewalt, so Maas, entstehe im Kopf und aus Worten würden leider allzu oft Taten.
Hass und Ausgrenzung im Parlament
Heute stehen fünf Kastanienbäume auf dem Grundstück, wo das Haus der Familie Genç niederbrannte. Einer für jedes Opfer. Die Bäume sind ein Symbol und eine Mahnung. „312 Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte gab es allein im vergangenen Jahr“, sagt Heiko Maas. Fast einen pro Tag. Das zeige wie wichtig es sei, immer wieder aufs Neue für Toleranz, Vielfalt und Mitmenschlichkeit einzutreten.
Es gibt noch viel zu tun. Tim Kurzbach sagt zwar, dass die Menschen nach dem Anschlag in seiner Stadt „angepackt“ hätten und viele Initiativen sich für ein friedliches Miteinander einsetzten. Aber man müsse heute „durchaus Sorgen haben müssen, dass sich Geschichte wiederholen kann, trotz aller Mahnungen.“ Wieder sollen die sogenannten Fremden die Gefahr sein für alles Mögliche in unserem Land, sagt der Oberbürgermeister und ergänzt: „In unserem Parlament sitzt seit wenigen Monaten eine Partei, für die Hass, Ausgrenzung und der bewusste Bruch respektvollen Miteinanders geradezu der Markenkern sind.“
Leerstellen im Schulunterricht
Ähnlich mahnende Worte hatte es auch schon auf der Demonstration der Jugendlichen am Morgen gegeben. Wachsam müsse man sein. Und man könne auch konkret Dinge angehen. So sei es etwa völlig unverständlich, so Finn Grimsehl-Schmitz vom Jugendstadtrat, dass der Anschlag in Solingen im Unterricht nicht thematisiert werde. Es könne eben doch etwas getan dagegen getan werden, damit sich rechtes Gedankengut nicht weiterverbreite.
war Parlamentsredakteur für verschiedene Tageszeitungen sowie Sprecher der SPD und der NRWSPD. Für den vorwärts berichtet er vor allem aus Nordrhein-Westfalen.