Karlsruhe zu Wahlrechtsreform: SPD sieht „eine faire Entscheidung“
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Am Freitag hat das Bundesverfassungsgericht über einen Eilantrag von FDP, Linken und Grünen gegen die Wahlrechtsreform der großen Koalition entschieden. Mit ihrem Antrag wollten die Antragssteller*innen der Oppositionsfraktionen erreichen, dass die in der Wahlrechtsreform beschlossenen Änderungen bei der Wahl am 26. September nicht angewandt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Eilantrag mit heutigem Beschluss abgelehnt mit der Folge, dass die im letzten Oktober verabschiedeten Änderungen für die kommende Wahl angewendet werden.
Die Reform verfolgt das Ziel, die bis zuletzt auf 709 erhöhten Sitze im Bundestag zu reduzieren. Dies soll zum einen erreicht werden, indem Überhangmandate einer Partei keinen vollen Ausgleich mehr erhalten, sondern bis zu drei Überhangmandate nicht kompensiert werden. Zum anderen soll die Anzahl der 299 Wahlkreisen auf 280 gesenkt werden, allerdings erst vor der Bundestagswahl 2025.
Karlsruhe respektiert Auftrag des Gesetzgebers
Mit seinem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht eine faire Entscheidung getroffen. Es respektiert den in Art. 38 Abs. 3 GG festgehaltenen Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers, das Wahlrecht auszugestalten und damit ein Stück materielles Verfassungsrecht auszufüllen. Aber die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist eine vorläufige, denn das Gericht hat nicht entschieden, ob die neuen Regelungen grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar sind, sondern nur, ob diese für die anstehende Wahl im September Anwendung finden.
In seiner Abwägung kommt das Gericht zu dem Schluss, dass schwere Nachteile entstünden, wenn also die Wahlrechtsform für unanwendbar erklärt wird und sich im Nachhinein herausstellt, dass die Regelungen verfassungskonform sind. Denn dann bliebe es bei der ursprünglichen Regelung der vollen Ausgleichsmandate, die der Gesetzgeber ja mit der neuen Regelung so nicht beibehalten will. Damit wären Ausgleichsmandate gegen den Willen des Gesetzgebers vorgenommen worden. Das Bundesverfassungsgericht verweist in diesem Zusammenhang sowohl auf die Legitimations- als auch die Integrationsfunktion der Wahl und verleiht diesem demokratietheoretischen Argument ein bedeutendes Gewicht in der Waagschale.
Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien
Aber es zeigt in seinem Beschluss auch auf, dass die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien so bedeutend sind, dass eine Einschränkung besonders strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt und scheut nicht davor die Erheblichkeit des Eingriffs zu verdeutlichen, wenn die Wahlrechtsreform in Hauptsacheverfahren für verfassungswidrig erklärt werden würde. Besonders schwer wögen dann die Folgen für die Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Denn ob Überhangmandate voll ausgeglichen werden oder ob bis zu drei Überhangmandate nicht berücksichtigt werden, kann die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag beeinflussen.
Hier liegt einer der wichtigsten Hinweise im Beschluss: Das Gericht stellt zwar in seiner Folgenabwägung fest, dass im Nachhinein immer noch durch eine Wahlprüfungsbeschwerde festgestellt werden könnte, dass die Wahl unter Anwendung der neuen Regelungen nicht rechtmäßig war und gegebenenfalls die Anordnung einer Neuwahl in Betracht käme. Theoretisch stimmt das, in der Vergangenheit kam es bisher aber noch nie zu Neuwahlen. Anders stellt es sich jedoch dar, wenn es – wie hier – um Mehrheitsverhältnisse im Bundestag geht. Dann wird es ernst und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass es Neuwahlen geben wird.
SPD hat sich gegen Union durchgesetzt
Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag berühren den sensiblen Punkt der Wahlrechtsgleichheit. Das bedeutet, dass die Sitzverteilung im Bundestag nach dem Wählervotum der Zweitstimme erfolgen muss. Das Gewicht der Zweitstimme verschiebt sich aber, wenn eben nicht mehr alle Überhangmandate ausgeglichen werden.
Das hat die SPD während des Reformprozesses immer wieder betont und dafür gesorgt, dass die nicht auszugleichenden Überhangmandate sich auf die Anzahl „drei“ beschränken und nicht höher liegen, wie von der Union gefordert. Neben diesen hohen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht aufgestellt hat, hat es uns auch schon einen kleinen Ausblick gegeben, welche anderen Hürden die Reform nehmen muss.
Wahlrecht soll klar und verständlich sein
Da wäre noch die Frage, ob die neuen Regelungen dem verfassungsrechtlichen Gebot der Klarheit und Verständlichkeit von Rechtsnormen genügen. Dieses Gebot sorgt dafür, dass der Gesetzgeber das Wahlsystem so ausgestalten muss, dass es für die Wähler*innen verständlich ist. Nachvollziehbar lässt sich das mit der neuen Reform in Frage stellen. Allerdings nicht nur mit den neuen Regelungen. Dass die Regelungen zum Wahlsystem kaum verständlich und nachvollziehbar sind, wird schon lange von vielen Fachleuten kritisiert. Und das liegt nicht zuletzt daran, dass das Bundesverfassungsgericht selbst die Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit immer weiter nach oben geschraubt hat. Dadurch ist der Spielraum des Gesetzgebers erheblich eingeschränkt.
In diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt, wie wichtig der Wille des Gesetzgebers ist, denn er ist der Wille der Wähler*innen. Diese Kopplung ist eines der höchsten Güter in einer Demokratie und nicht zuletzt in Zeiten des aufkommenden Rechtspopulismus eine wichtige Erinnerung. Dass dieser Wille immer an oberster Stelle stehen muss, sollte keine Frage sein, über die man diskutiert. Die Ausgestaltung eines fairen Wahlrechtssystems ist eine komplexe und schwierige Aufgabe. Die beschlossenen Regelungen sind dazu nur ein Zwischenschritt. Mit einer umfassenden Reform wird sich die eingesetzte Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit befassen, um ein Wahlrecht zu schaffen, dass den Anforderungen an die Normenklarkeit, der Chancengleichheit der Parteien und vor allem dem Willen der Wähler*innen gebührend Rechnung trägt.