Karlsruhe: EZB-Anleihekäufe teilweise grundgesetzwidrig
imago images / Arnulf Hettrich
Der billionenschwere Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) ist verfassungswidrig. Das hat jetzt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Präsident Andreas Voßkuhle festgestellt (Az.: 2 BvR 859/15). Die EZB habe versäumt, die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu prüfen. Damit hat das Bundesverfassungsgericht erstmals einen EU-Rechtsakt als kompetenzwidrig (ultra vires) gebrandmarkt.
Eurokritiker Lucke und Gauweiler hatten geklagt
Von März 2015 bis November 2019 kaufte das Eurosystem, zu dem die Zentralbanken aller Euro-Staaten gehören, Staatsanleihen im Wert von bislang rund 2,1 Billionen Euro auf. Das Programm hieß PSPP (Public Sector Purchase Programme) und diente laut EZB geldpolitischen Zielen. Es sollte bei Banken Liquidität freisetzen und damit Kreditvergabe und Wirtschaft ankurbeln. So sollte Deflation verhindert werden, die wiederum zu Kaufzurückhaltung führen könne.
Euro-Kritiker wie Bernd Lucke (Ex-AfD) und Peter Gauweiler (CSU) haben dagegen schon 2015 beim Bundesverfassungsgericht geklagt. Sie halten die EZB-Begründung für vorgeschoben. Die EZB betreibe hier unerlaubt Staatsfinanzierung und Wirtschaftspolitik. Denn der Aufkauf von Staatsanleihen ermögliche den stark verschuldeten EU-Staaten eine zinsgünstige Refinanzierung.
Karlsruhe schon länger kritisch gegenüber EZB
Die Verfassungsrichter haben sich diese Vorwürfe zunächst zu eigen gemacht. 2017 sahen sie „gewichtige Anhaltspunkte“, dass die EZB ihr Mandat überschritten hat. Sie legten deshalb dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vor, ob auch er die EU-Verträge verletzt sieht.
Der EuGH erklärte dann im Dezember 2018, das PSPP-Programm verstoße nicht gegen EU-Recht. Der Ankauf von Staatsanleihen sei nicht deshalb unzulässig, weil man damit auch wirtschaftspolitische Ziele verfolgen könnte.
Richter: Zentralbank hat Mandat überschritten
Das Bundesverfassungsgericht gab nun den Verfassungsbeschwerden von Lucke und Gauweiler statt. Die EZB habe weder geprüft noch festgestellt, dass der Anleiheankauf verhältnismäßig ist. Dabei habe der Ankauf von Staatsanleihen schwerwiegende Folgen. Staaten könnten sich damit leichter finanzieren und unterlassen deshalb möglicherweise notwendige Wirtschaftsreformen. Auch Unternehmen kommen leichter an Kredite und gehen deshalb vielleicht nicht bankrott, obwohl dies marktwirtschaftlich erforderlich wäre. Sparer bekommen kaum noch Zinsen für ihre Guthaben, während die Preise für Immobilien und damit auch die Mieten stark ansteigen.
All dies hätte die EZB mit ihren geldpolitischen Zielen abwägen müssen, so die Verfassungsrichter. Und weil sie dies unterlassen hat, habe sie ihr Mandat überschritten. Anders als früher wurde der EZB also nicht vorgeworfen, dass sie zu viel Wirtschaftspolitik betreibe, sondern dass sie zu wenig an wirtschaftspolitische Folgen gedacht hat.
Widerspruch gegen EuGH „absolute Ausnahme“
Eigentlich ist der EuGH für die Prüfung zuständig, ob EU-Organe sich im Rahmen ihrer Kompetenzen bewegen. Grundsätzlich, so betonte Voßkuhle, wolle das Verfassungsgericht auch die Einschätzungen des EuGH akzeptieren. Nur wenn der EuGH willkürlich entscheidet oder anerkannte methodische Grundsätze ignoriert, sieht sich Karlsruhe nicht an EuGH-Urteile gebunden. Das soll aber die „absolute Ausnahme“ bleiben, so Voßkuhle.
Im konkreten Fall wird dem EuGH vorgeworfen, dass er die wirtschaftlichen Auswirkungen des EZB-Programms „völlig ausgeblendet“ hat. Das sei keine ordentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das EuGH-Urteil müsse deshalb ignoriert werden.
Es liegt keine Staatsfinanzierung vor
Dagegen folgte das Verfassungsgericht dem EuGH in einem anderen Punkt. Es liege wohl kein offensichtlicher Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung durch die EZB vor. Zum einen könnten Zentralbanken maximal ein Drittel der Staatsanleihen aufkaufen. Zum anderen sehe das PSPP-Programm vor, dass die Zentralbanken nur Anleihen ihres eigenen Staates erwerben. Die Bundesbank kauft also deutsche Staatsanleihen und keine griechischen. Auch die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestags sei gewahrt, so die Karlsruher Richter, weil keine „Risikoteilung“ zwischen den EU-Staaten vorgesehen ist.
Die Entscheidung ist zwar ein großer Affront der deutschen Verfassungsrichter gegenüber den EU-Institutionen. Die Folgen halten sich zunächst aber in Grenzen. Die Verfassungsrichter erwarten, dass die EZB die Verhältnismäßigkeitsprüfung in den kommenden drei Monaten nachholt. Solange kann das Ankaufprogramm, das im November 2019 auf niedrigem Niveau neu startete, fortgeführt werden.
EZB soll wirtschaftspolitische Folgen mitbedenken
Die EZB dürfte über die neue Pflicht, mehr wirtschaftspolitisch zu denken, nicht traurig sein. Denn in die Abwägung werden künftig natürlich nicht nur die Interessen deutscher Sparer, sondern auch die Lage spanischer Arbeitsloser und französischer Rentner einfließen.
Auf das geplante neue Ankauf-Programm der EZB im Rahmen der Corona-Krise (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP) geht das Urteil, das bereits Ende 2019 im Kern fertig gestellt war, nicht ein. Allerdings dürfte aus Karlsruher Sicht auch hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich sein.
Schlechtes Signal für Corona-Bonds
Dass die Verfassungsrichter das Verbot von Risikoteilungen betonen, dürfte für die diskutierten Corona-Bonds ein schlechtes Signal sein. Möglicherweise würden die Karlsruher Richter auch hiergegen einschreiten.
Den größten Nutzen aus dem Karlsruher Urteil können vermutlich Problemstaaten wie Polen und Ungarn ziehen, die sich nun gerne auf das Bundesverfassungsgericht berufen werden, wenn sie Brüsseler Vorgaben ignorieren.