Juristin Silke Laskowski: SPD hält völlig zu Recht an Paritätsgesetz fest
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Bei der UN-Vollversammlung Mitte September war die erste Frau der Redner*innenliste auf Platz 51. Von der Gleichstellung von Frauen in der Politik scheinen wir noch immer weit entfernt?
Um dafür Beispiele zu finden, können wir in der Bundesrepublik bleiben. Nehmen wir zwei Beispiele von Mitte September: Die frauenfeindliche Aussage des Journalisten Roland Tichy zur Bundestagskandidatur der SPD-Politikerin Sawsan Chebli und die sexistische Aussage von Christian Lindner gegenüber Linda Teuteberg auf dem FDP-Parteitag zeigen deutlich, wie maskulin der Politikbetrieb derzeit immer noch ist. Erkennbar ist das vor allem im Nominierungsverfahren der Kandidatinnen und Kandidaten für die Parlamente. Hier lässt sich von einer strukturellen Bevorzugung von Männern und Benachteiligung von Frauen sprechen, die in faktischen Männerquoten von etwa 80 Prozent sichtbar wird. Dabei handelt es sich nicht um ein individuelles Problem von Frauen, sondern um ein strukturelles von Parteien.
Was meinen Sie mit strukturell benachteiligt?
Frauen fehlen seit Jahren in den Wahlvorschlägen der Parteien, aber nicht deshalb, weil Frauen zu ängstlich oder zu blöd sind – auch wenn dies gern in der Öffentlichkeit so verbreitet wird. Ausschlaggebend sind innerparteiliche Strukturen, die sich in intransparenten, Männer bevorzugenden Nominierungsverfahren zeigen. Es handelt sich nicht um ein individuelles Problem von Frauen, sondern um ein strukturelles Problem der Parteien. Ganz besonders deutlich wird das in Parteien, in denen nicht einmal im Satzungsrecht eine gleichmäßige Geschlechterverteilung für Wahlvorschlagslisten vorgesehen ist.
Die rund 30 bis 33 Prozent Frauen, die für ihre Parteien aktuell in den Landesparlamenten oder auch im Bundestag sitzen, gehen zurück auf genau drei Parteien, die ihre weiblichen Abgeordneten mit Hilfe der Wahlvorschlagslisten einbringen. Das sind SPD, die Linken und die Grünen. Gäbe es deren Satzungsrecht nicht, würde der Anteil der Frauen irgendwo zwischen 10 und 20 Prozent liegen. Als Einzelkämpferinnen haben Frauen in Parteien, die von Männern dominiert werden, keine Chance – darum geht es.
Warum ist ein Paritätsgesetz überfällig?
Frauen in allen Parteien haben nach Artikel 38 Absatz 1 und Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz das Recht auf Chancengleichheit im Nominierungsverfahren. In der Realität besteht es nicht. Daher muss es mit Hilfe paritätischer Gesetze nach 71 Jahren endlich durchgesetzt werden. Nur wenn Frauen nominiert werden, können sie vom wahlberechtigten Volk, das übrigens zu 51 Prozent aus Frauen besteht, auch gewählt werden. Sonst fehlen Parlamentarierinnen. Dies führt zu politischen Entscheidungen, in denen ein „männlicher Blick“ dominiert, der die Perspektiven und Anliegen von Frauen übersieht oder ignoriert.
Beispiel Frauenschutzhäuser: Symptomatisch ist ihre fehlende gesetzliche Absicherung und chronische Unterfinanzierung – der Schutz von Frauen und Kindern vor männlicher Gewalt zählt nicht viel. Stichwort Entgeltdiskriminierung – warum fehlt immer noch ein wirksames Gesetz zur Durchsetzung der Lohngleichheit von Frauen, obgleich sie auf den gleichen Lohn wie Männer einen verfassungsrechtlichen Anspruch aus Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz haben? Der aktuelle „Gender Pay Gap“ von knapp 25 Prozent wird zu einem „Gender Pension Gap“ von 50-60 Prozent – die Altersarmut von Frauen ist also vorprogrammiert und auf dem Vormarsch.
Dies zeigt: Fehlt ein „gleichberechtigter Blick“ in der Politik, wirken sich Gesetze nicht selten unterschiedlich auf Frauen und Männer aus – oder wirksame Gesetze werden einfach verweigert. Das ist übrigens keine neue Erkenntnis. Schon 1980 erklärte Heiner Geißler, Jurist und ehemaliger CDU-Minister, in einem Interview gegenüber dem Deutschen Frauenrat, dass „die Benachteiligungen von Frauen (...) das Resultat einer Politik (sind), die sich im Wesentlichen am Mann orientiert.“
Deshalb ist es wichtig, dass Frauen und Männer hälftig, also paritätisch, im Bundestag vertreten sind. In Frankreich zum Beispiel schreibt der Gesetzgeber allen Parteien schon seit 2001 vor, ihre Listen im Reißverschlussverfahren paritätisch zu besetzen. Abweichende Listen werden nicht zur Wahl zugelassen. Das reicht an Sanktion und funktioniert. Auch für Direktmandate gibt es paritätische Vorgaben. Die Politik änderte sich. In Deutschland wird hingegen weiterhin nach dem Gießkannenprinzip mal hier, mal da zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen etwas geändert. Es klingt dann, als würden Frauen irgendwelche Sonderrechte für sich fordern. Das ist aber nicht so. Es geht um die Durchsetzung der Frauen nach dem Grundgesetz zustehenden Rechte. Dies fängt mit der Chancengleichheit an. Das ist in der Politik nicht anders als in der Wirtschaft oder in der Wissenschaft.
Nun ist ein Paritätsgesetz in Thüringen gescheitert. In Brandenburg prüft das Landesverfassungsgericht das Paritätsgesetz. Sie aber sagen, ein Paritätsgesetz ist verfassungskonform.
In beiden Ländern wurden nur die Wahlvorschlagslisten geregelt. Juristisch betrachtet kann ich keine Ungleichbehandlung von Frauen oder Männern darin erkennen, dass der Gesetzgeber paritätisch besetzte Listen einfordert. Jeder zweite Platz ist einer Frau bzw. einem Mann vorbehalten. Frauen und Männer werden also strikt gleich behandelt, ihre Chancengleichheit wird so gesichert. Wo ist das Problem? Im Grundgesetz in Artikel 3 Absatz 2 und auch in allen Landesverfassungen ist die Gleichberechtigung von Frauen und Männern vorgeschrieben. Nach 71 Jahren Untätigkeit und verfassungswidriger struktureller Diskriminierung von Kandidatinnen ist es an der Zeit, dass der Gesetzgeber etwas unternimmt. Veränderungen sind hier nicht von selbst zu erwarten.
Deshalb haben Sie gegen das Urteil des Landesverfassungsgerichts in Thüringen Beschwerde in Karlsruhe eingelegt…
Nachdem die AfD in Thüringen gegen die Wahlrechtsreform geklagt und sich auch vor dem Landesverfassungsgericht durchgesetzt hat, habe ich im Namen von 20 Thüringerinnen und Thüringern gegen die Weimarer Entscheidung Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. SPD-Fraktionschef Carsten Schneider zählt hier zu den Beschwerdeführern der ersten Stunde. Vor allem der Thüringer Landesfrauenrat hat dafür gesorgt, dass sich in kürzester Zeit 20 Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer fanden. Außerdem habe ich inzwischen von mehr als 300 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet Vollmachten erhalten, die diesem Verfahren gerne beitreten möchten – weil das Grundgesetz auch in Thüringen gilt, auch Artikels 3 Absatz 2.
Das Weimarer Urteil vom 15.7.2020 wirkte hier wie ein Weckruf auf die Zivilgesellschaft. Schließlich wurde der Gehalt des Gleichberechtigungsgrundrechts und Gleichberechtigungsgebots vom Bundesverfassungsgericht in jahrelanger Rechtsprechung herausgearbeitet und darf auch in Thüringen nicht unterschritten werden. Das hat das Thüringer Verfassungsgericht offenbar übersehen. Das Weimarer Urteil verbietet dem Thüringer Gesetzgeber letztlich das, was ihm durch das Grundgesetz, durch Artikel 3 Absatz 2, erlaubt ist. Das verstößt gegen Artikel 20 Absatz 3 und Artikel 1 Absatz 3 Grundgesetz. Kein Gesetzgeber in Deutschland ist gehindert, ein wirksames Paritätsgesetz zu beschließen – schon gar nicht der Bundesgesetzgeber für die Bundestagswahlen.
Was war das Besondere am Gesetzgebungsverfahren in Thüringen?
Der Gesetzentwurf war ein von der rot-rot-grünen Parlamentsmehrheit und der Landesregierung getragener Entwurf, der mit den eingeladenen Sachverständigen ernsthaft diskutiert wurde. Die Beratung diente dazu, Dinge zu klären und den Entwurf zu verbessern. Infolgedessen wurden überflüssige Ausnahmen herausgestrichen. Am Ende gab es klare und wirksame Regelungen für die Liste, nach dem Vorbild in Frankreich. Paritätische Listen ohne Ausnahme. Es geht hier um reine Organisation. Das kann jede Partei leisten, unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Das zeigen die Erfahrungen in Frankreich. Auch rechte Parteien wie „Rassemblement National“ von Frau Le Pen beherrschen Parität, wenn das Gesetz es vorschreibt.
Warum dann dieser Streit?
Es wird immer zu einem Streit kommen. Denn diejenigen, die bisher verfassungswidrig unter Verstoß gegen das Grundgesetz privilegiert werden, haben kein Interesse daran, dass sich etwas ändert. Daran führt aber kein Weg vorbei. Es geht um die Herstellung verfassungskonformer Zustände. Die SPD-Bundestagsfraktion hält daher völlig zu Recht an einer paritätischen Wahlrechtsreform fest und hat dazu einen verfassungskonformen Vorschlag erarbeitet.
Wie geht es weiter?
Nun – wie ich von der ehemaligen Justizsenatorin Hamburgs und Berlins, Dr. Lore Peschel-Gutzeit, 2014 in einem Interview gelernt habe, gibt es beim Thema Gleichberechtigung offenbar vier Stufen der Eskalation. Erste Stufe: völlige Ignoranz. Zweite Stufe: lächerlich machen des Themas und/oder der Person. Wenn das noch nicht reicht, dritte Stufe: es wird wortreich eingeprügelt auf das Thema und/oder die Person. Dass die Debatte zuletzt rhetorisch stark aufgeladen war, werte ich als gutes Zeichen – das spricht für Stufe drei. Nun folgt die vierte Stufe, die sachliche Diskussion. Ein deutliches Zeichen dafür ist die am 8.10.2020 vom Bundestag beschlossene Änderung des Bundeswahlgesetzes, auf der Grundlage des gemeinsamen Gesetzentwurfs von SPD und CDU/CSU (BT-Drs. 19/22504). Nun ist in § 55 eine Reformkommission geregelt, die bis zum 30.6.2023 Maßnahmen empfehlen muss, „um eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Bundestag zu erreichen“.
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.