„Jeder Flüchtling hat eine eigene Geschichte“
Im April 1992 brach der Krieg in Bosnien und Herzegowina aus. Bereits davor, im Frühjahr 1992, sind Menschen aus meiner Heimatstadt Sarajevo geflohen. Ich beobachtete die hektischen Familien und Kinder mit ihren Koffern auf der Straße und fragte meinen Vater, ob wir auch unsere Heimatstadt verlassen würde. Mein Vater sagte nein, das seien bloß Unruhen und die Situation werde sich sicherlich bald beruhigen. Es waren der Optimismus und die Hoffnung eines Mannes, der seine Heimat und sein Leben, das er sich dort aufgebaut hatte, liebte.
Es ging uns sehr gut in Sarajevo: Mein Vater hatte einen sehr guten Job, wir wohnten in einer Eigentumswohnung, die mein Vater Anfang der achtziger Jahre gekauft hatte, ich ging zur Schule, wie alle anderen Kinder auch, die Wochenenden verbrachte ich im Haus meiner Großeltern in der Altstadt von Sarajevo. Uns fehlte es an nichts. Mit Kriegsausbruch veränderte sich alles schlagartig, die Schulen wurden geschlossen, es wurde geschossen, wir Kinder durften nicht mehr auf die Straße, Elektrizität und Wasser wurden rar, zu essen gab es auch nicht mehr alles und vor allem wenig.
Wir flohen, nachdem ich meinen Arm verloren hatte
Die Situation wurde immer lebensbedrohlicher, da die Kämpfe nur einige Kilometer von unserer Wohnung stattfanden. Wir zogen zu meiner Tante und meinen Cousinen in einen anderen Stadtteil, da schien es sicherer zu sein. Doch vor Bomben, Granaten, Schafschützen waren wir dort auch nicht sicher. So geschah es an einem Morgen im Oktober, dass, als ich vor dem Haus stand, eine Granate in den Hof fiel und ich stark verletzt wurde. Mein rechter Arm konnte nicht gerettet werden, die Ärzte im Krankenhaus mussten ihn amputieren.
Trotz mehrerer Operationen konnte die Entzündung an der Verletzung nicht behoben werden. Dadurch bestand die Gefahr, dass weiter amputiert werden musste. Eine Weiterbehandlung im Ausland war damit notwendig. So riet uns ein deutsches Ärzteteam von „Cap Anamur“ nach Deutschland zu fliehen. Da es keinen freien Platz im Flugzeug gab, mussten mein Vater und ich selbständig die Flucht aus Sarajevo organisieren. Dabei half uns ein Schleuser. Die Flucht war sehr gefährlich, da wir genau den Weg nehmen mussten, wo die Front verlief und wo ununterbrochen geschossen wurde. Es hat einige Wochen gedauert bis wir von Sarajevo über Kroatien und Slowenien schließlich in Bonn angekommen sind.
Ein neues Leben in Bonn
Hier wurden wir sehr gut aufgenommen. Ich erinnere mich an viele freundliche und hilfsbereite Menschen. Ich war zunächst einmal im Krankenhaus in Bonn und wurde dort zweimal operiert. Ich hatte aber auch das Glück, dass ich danach nicht in einem Flüchtlingsheim unterkam, sondern bei deutschen Familien. Dies war soweit ich weiß bei allen verletzten Flüchtlingen der Fall. Und ich hatte das Glück, dass mein Vater und ich bei einer Frau untergebracht wurden, die schließlich meine Mutter geworden ist.
Meine Adoptivmutter hieß Maria Hostert und ist 2003 an einer Nierenkrankheit gestorben. Ihr habe ich sehr viel zu verdanken. Sie hat mich seit 1994 unterstützt bei allem. Bei dem Kampf um das Bleiberecht, bei der Entscheidung ob ich auf ein Gymnasium komme oder nicht. Die Empfehlung meiner Lehrer war damals Haupt- oder höchstens Realschule. Dass ich natürlich nach einem halben Jahr noch nicht fließend deutsch sprechen, geschweige denn schreiben konnte – wer kann das schon mit zehn Jahren – dass das aber nicht an mangelnder Intelligenz lag, das hatten die Grundschullehrer nicht erkannt, meine Adoptivmutter, selbst Gymnasiallehrerin, aber sehr wohl.
Ich kam schließlich aufs Gymnasium, die Oberstufe absolvierte ich auf einem Internat in England und zum Studium kam ich wieder zurück nach Bonn und habe meinen Abschluss 2009 mit einer „sehr gut“ gemeistert. Das hätte mir mein Grundschullehrer wohl auch nicht zugetraut.
Schikane der Behörde
Allgemein hatte ich nie das Gefühl, dass ich unerwünscht war, im Gegenteil. Nach dem Krankenhausaufenthalt kam ich in die Grundschule. Die Sprache lernte ich schnell und fand sehr schnell Freunde. Seitens der Behörden kann ich mich leider an keine einzige positive Situation erinnern. Jahrelang hat mir das Ausländeramt das Leben und die Integration erschwert. Ich habe das als Schikane empfunden. Ich kostete den Staat nichts, meine deutsche Adoptivmutter hatte das Sorgerecht übernommen und trug die volle Verantwortung. Trotzdem erhielt ich keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Ich hatte jahrelang eine Duldung, die ständig verlängert werden musste.
Damals herrschte die Residenzpflicht und damit war eine Bewegungsfreiheit innerhalb Deutschlands nicht erlaubt. Selbst als ich dann die befristete Aufenthaltsgenehmigung erhielt, wurde bei den Verlängerungen mein Pass lange einbehalten: Es wurde geprüft, ob die Aufenthaltsgenehmigung überhaupt verlängert werden durfte. Dabei verlangte das Ausländeramt von mir Atteste vom Arzt mit genauen Angaben einer Therapie und wie lange es denn dauern würde bis ich nicht mehr traumarisiert bin und in die Heimat zurückkehren könnte.
Bei Attesten, die den Behörden nicht passten, wurde mir zweimal mit der Abschiebung gedroht. Diese Prozedur zog sich manchmal so lange hin, dass ich in einem Sommer gar nicht verreisen konnte, da das Ausländeramt die ganzen Ferien über meinen Pass einbehalten hatte um meinen Aufenthaltsstatur zu prüfen.
All das kann man Flüchtlingen ersparen. Den Behörden ist man aber machtlos ausgesetzt. Ich hätte mir einen besseren und faireren, menschlichen Umgang gewünscht. Ich hatte leider das Gefühl, dass einigen Sachbearbeitern diese Schikanen eine Genugtuung waren.
Verbesserungen und Verschlechterungen seit den 90er Jahren
Zum Glück sind die rechtlichen Rahmenbedingungen inzwischen etwas besser geworden. Die Residenzpflicht beispielsweise wurde aufgehoben. Auch hat man erkannt, dass man Flüchtlinge, die einen Flüchtlingsstatus erhalten, integrieren soll, und nicht wie in den 90er Jahren, weiterhin in die Richtung arbeitet, dass die Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren. Auch hat man erkannt, dass man die Anträge schneller bearbeiten muss und dass es gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert wird, einen Menschen, der fünf Jahre oder länger in Deutschland lebt, einfach abzuschieben.
Gesellschaftlich gesehen polarisiert das Thema Flüchtlinge denke ich genauso wie in den 90er Jahren. Es gibt die Menschen, die ihr letztes Hemd für die Flüchtlinge geben und sich unermüdlich für sie einsetzen. Meine Adoptivmutter war so eine Person. Und auch heute gibt es wie in den 90er Jahren Menschen, die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sind und soweit gehen, dass sie Flüchtlingsheime anzünden.
Ich glaube aber, dass die Situation in den 90ern, obwohl damals mehr Flüchtlinge aufgenommen wurden, nicht so extrem wie heute war. Die Gesellschaft scheint sich nicht entwickelt zu haben. Die Fremdenfeindlichkeit, den Rassismus und vor allem dieses Unwissen empfinde ich als allarmierend für unsere Gesellschaft. Und es ist erschütternd zu sehen wie viele Menschen eigentlich die Situation oder die Rechtslage für Flucht und Asyl gar nicht kennen, sich aber ein Urteil bilden, indem sie ihrem feindlichen Gefühl einfach folgen ohne es sachlich zu hinterfragen.
Mein Wunsch: Flüchtlingspolitik vom Menschen her denken
Deshalb wünsche ich mir, dass in der Flüchtlingspolitik mehr vom Menschen her gedacht wird. Flüchtlinge sind nicht einfach Fälle und Zahlen, sondern Menschen. Und jeder dieser Menschen hat eine eigene Geschichte, so wie ich auch meine habe. Da muss man etwas mehr Einfühlungsvermögen haben bzw. entwickeln bevor man den „Fall“ bearbeitet und dann vielleicht auch falsch entscheidet. Zudem sollte man sich immer im Klaren sein, dass kein Mensch aus Jux und Tollerei seine Heimat verlässt. In der Regel lieben alle Menschen ihre Heimat, ihre Umgebung und ihre Familie. Sie fliehen also aus Verzweiflung, vor Hunger, vor Krieg und Verfolgung, Angst und Terror. Sie machen sich auf einen Weg ohne zu wissen wo das Ziel ist und wie ihre Reise ausgeht. So etwas macht man nur wenn man keine andere Wahl hat.
Wenn man sich das immer mal wieder vor Augen führt, dann entsteht ein anderes Gefühl und eine andere Einstellung. Und dann werden auch Entscheidungen anders getroffen.