Inland

Interview: Europa könnte an der Flüchtlingsfrage zerbrechen

Flüchtlinge werden vorsortiert, diskriminiert und der Staat entzieht sich seiner Verantwortung: Für den Juristen Jochen Schwarz läuft in der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik vieles schief. Unser Interview über die tägliche Arbeit mit Flüchtlingen und die Bedeutung der Wiedereinführung von Grenzkontrollen für Europa.
von · 16. September 2015

Herr Schwarz, Sie arbeiten in der OASE Berlin e.V. in Pankow. Der Verein berät und begleitet seit mehr als 20 Jahren Migranten und Flüchtlinge. Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?

Ich berate zum Beispiel Flüchtlinge während des Asylverfahrens. Zurzeit bin ich im Integrationslotsenprojekt für geflüchtete Menschen angestellt, welches der Senat finanziert. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus – verweisender – Beratung und Begleitung

Was bedeutet das?

Wir Lotsen überweisen Menschen an die zuständigen Fachstellen. Ich selbst habe eine juristische Ausbildung und jahrelange Erfahrung in der Beratung. Deshalb versuche ich, so viel zu machen, was ein Anwalt machen kann. Aber es gibt natürlich Grenzen, zum Beispiel juristische. Ich kann helfen, mit den Geflüchteten zusammen eine formelle Klage gegen die Ablehnung des Asylantrags zu schreiben, aber die Begründung sollte dann ein Anwalt machen.

Wie sieht die Begleitung von Flüchtlingen konkret aus?

Ziel ist, dass unser Projekt auch in die Wohnheime geht. Wir wollen in allen Pankower Wohnheimen Beratung anbieten. Wichtig ist, mit den Sozialarbeitern zusammenzuarbeiten. Das Problem bei den Lotsen ist, dass es noch kein detailliertes ausführliches  Aufgabenprofil der Flüchtlingslotsen gibt, bzw. wir das selbst erarbeiten. Das fängt schon damit an, dass es in jedem Berliner Bezirk Lotsen gibt und jeder das ein bisschen anders gestaltet. Außerdem haben die Lotsen ganz unterschiedliche Hintergründe: Ich bin Jurist, meine Kollegin Soziologin. Deswegen teilen wir uns die Arbeit so auf, dass sie am besten zu unseren Kompetenzen passt. Wir bieten zum auch Beispiel auch für Ehrenamtliche und Multiplikatoren Workshops und Veranstaltungen zum Thema Flüchtlingsrecht an, mit denen wir für Rassismus und Antiziganismus sensibilisieren wollen.

Begegnet Ihnen Rassismus in Ihrer täglichen Arbeit?

Gelegentlich schon. In der Beratung hören wir des Öfteren von Diskriminierungssituationen, gerade gegen Sinti und Roma. Sie werden in der Ausländerbehörde oder im Jobcenter diskriminiert oder schlecht behandelt. Da wird gesagt: „Du kriegst bei mir keine Arbeit“.

Vorurteile halten sich also hartnäckig?

Natürlich. Das sieht man auch daran, dass es faktisch derzeit immer mehr eine Einteilung der Flüchtlingsgruppen gibt in „gute“ Flüchtlinge und „schlechte“ Flüchtling. Die einen bekommen sofort eine Anerkennung. Den anderen, gerade Flüchtlinge aus Balkanstaaten, wird hingegen von Vorneherein gesagt: Ihr habt keine Chance auf Anerkennung. Ohne vorherige Prüfung! Da kommen natürlich ganz viele Elemente des Antiziganismus durch.

Wie sieht die Situation in Pankow aus?

Wir haben hier 2000 Flüchtlinge – das ist die größte Anzahl von Flüchtlingen in Berlin, Kreuzberg hat beispielsweise derzeit nur 400. Natürlich ändert sich das laufend. In Pankow gibt es sieben Flüchtlings-Unterkünfte und es werden noch mehr. Insgesamt ist die Situation relativ gut, sowohl was die Unterbringung angeht als auch, was die Zusammenarbeit mit der Politik betrifft. Manchmal würde ich mir von der Politik aber wünschen, dass noch ein bisschen mehr kommt. Gerade jetzt, wo es so viele Herausforderungen gibt, sollte man gut zusammenarbeiten und zusehen, dass die Kooperation mit den Ehrenamtlichen klappt. Es wäre schön, wenn diese Kooperation auf einer gleichberechtigten Ebene laufen würde.

Viele Menschen engagieren sich freiwillig, wollen helfen. Im Ausland wird die Bundesrepublik für ihre Willkommenskultur gelobt. Aber ist das nicht auch ein Problem: Wenn private Initiativen und NGOs die Arbeit übernehmen, die eigentlich Politik und Verwaltung machen sollten?

Das ist derzeit wirklich ein großes Problem. Man muss sich nur die Situation vor dem LAGeSo anschauen. Ich kenne viele Leute, die bei sich zu Hause einen Flüchtling aufgenommen haben und die mich jetzt fragen: Was mache ich? Eine Woche geht das gut. Zwei Wochen geht das gut. Nach drei Wochen kommt die erste Krise. Es ist keine Privatsphäre da, man weiß juristisch nicht, wie geht es weiter. Die Leute sind nicht registriert. Geld gibt es auch keins. Das ist eine ganz dramatische Situation. Staatliche Aufgaben dürfen langfristig nicht auf private Initiativen ausgelagert werden.

Der Staat entzieht sich also seiner Verantwortung?

Viele Helferinnen und Helfer sind total überfordert. Und es geht ja nicht nur um den Bezirk: Es geht um das deutsche Asylrecht, das europäische Asylrecht. Auch auf EU-Ebene funktioniert es mit dem „Outsourcing: Die Seenotrettung im Mittelmeer funktioniert häufig nur noch durch private Initiativen oder Schiffe wie Sea Watch, während staatliche Programme wie Mare Nostrum eingestellt werden. Verantwortung wird an private Unternehmen abgegeben und an Ehrenamtliche. Das finde ich problematisch – ohne die Helfer kritisieren zu wollen, deren Solidarität natürlich immens wichtig ist. Bei Borderline Europe kooperieren wir im Übrigen mit der tollen Crew der Sea Watch.

Was muss sich im deutschen Asylrecht konkret ändern?

Man hätte in der Vergangenheit schon viel machen können, zum Beispiel in Sachen Unterbringung. Man hätte ein paar Gebäude in der Hinterhand haben müssen, für Situationen wie die aktuelle. Und man hätte versuchen müssen, frühzeitig mit Bund, Ländern und Gemeinden zusammenzuarbeiten. Natürlich ist es schwierig, wenn die Verteilung so ist, dass pro Tag 1000 Leute in Berlin ankommen. In Griechenland passiert ja ähnliches auf Inseln wie Lesbos. Auch wenn bei den Leuten guter Wille da ist: Irgendwann wird es Konflikte geben. Deswegen muss man Strukturen für eine bessere Verteilung schaffen: in Deutschland und Europa.

An vielen Orten ist die Überforderung durch die ankommenden Flüchtlinge bereits jetzt deutlich zu spüren. Politiker wie Alexander Dobrindt sehen Deutschland bereits am Rande seiner Möglichkeiten. Ist das so?

Man darf die aktuelle Lage nicht zu sehr dramatisieren und skandalisieren. Deutschland hat 1993 schon drei Millionen Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen – das hat auch funktioniert! Auch bei der Sprache muss man aufpassen. Ständig ist von „Flüchtlingsschwärmen“, „Flüchtlingswellen“  oder von einer Flüchtlingskrise die Rede. Schon der Begriff „Flüchtlingsproblem“ ist gefährlich. Wenn man von einem „Flüchtlingsproblem“ spricht, ist sofort klar: Flüchtlinge sind ein Problem. Stattdessen sollte man sagen: Wir nehmen Flüchtlinge auf und das ist per se erstmal kein Problem sondern ein Grundrecht. Vor allem sind die Menschen nicht das Problem, sondern vielleicht die Organisation der Unterbringung, die schnelle Registrierung und so weiter. So eine skandalisierende, xenophobisierende Sprache wird natürlich von Neonazis sowie Pegida und AFD aufgegriffen. Und von einigen Leuten in der CDU/CSU. Die sagen zwar nicht mehr wie in den 90ern: Das Boot ist voll, aber es kommen andere subtilere Aussagen mit ähnlichem Inhalt. Jetzt heißt es eben: Die kommen ja nur aus Wirtschaftsgründen.

Die bereits erwähnte Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge.

Genau. Da müsste man differenzierter rangehen. Es gibt ja ganz viele gute Gründe, sein Heimatland zu verlassen. Wenn eine Frau im Asylinterview sagt, sie kann ihr Kind nicht mehr ernähren und hat Angst, dass es nicht überlebt, kommt sie dann aus wirtschaftlichen Gründen? Welche Mutter würde nicht so handeln? In Deutschland werden momentan auch oft Zuwanderungsrecht und Flüchtlingsrecht in einen Topf geworfen. Es kann doch nicht sein, dass sich Flüchtlinge jetzt praktisch bewerben müssen! Egal, welche Qualifikation man hat: Flüchtlingsrecht ist für alle.  Es geht nicht darum zu fragen: Wen brauchen wir? Es findet eine Art Merkantilisierung des Flüchtlingsrechts statt.

Was meinen Sie damit?

Es werden Flüchtlinge „vorsortiert“, nach dem Motto: Die wollen wir haben, die nicht. Polen und die Slowakei sagen zum Beispiel, sie möchten gerne Flüchtlinge aufnehmen – aber nur die mit christlichem Glauben. Dramatisch ist es auch in Bayern. Dort gibt es jetzt spezielle Wohnheime für Flüchtlinge aus dem Balkan. Denn es scheint für die Verwaltung dort sowieso von Anfang an klar zu sein, dass sie nicht anerkannt werden. Die Flüchtlinge haben keine Chance. So wird das individuelle Asylrecht ad absurdum geführt. Gerade wenn es um Sinti und Roma geht und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, finde ich das sehr problematisch.

Tut die Politik genug in Sachen Flüchtlinge?

Immerhin haben sich Angela Merkel und François Hollande endlich geäußert. Es hat lange gedauert, aber sie haben es nun nachgeholt. Und sie haben klar Stellung bezogen. Die Gründe will ich nicht kommentieren – da steckt natürlich auch politisches Kalkül dahinter. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Merkel und de Maizière immer gegen eine Reform des Dublin-Systems waren. Nun, wo Flüchtlinge in Deutschland sind, fordern sie auf einmal eine gerechte Verteilung in Europa, eine Quote.

Zuletzt wurde das Schengen-Abkommen ausgesetzt: Die Bundesregierung hat die Kontrollen an den deutschen Außengrenzen wieder eingeführt. Was bedeutet das für Europa?

Dass das Schengen-Abkommen außer Kraft gesetzt wurde, wundert mich nicht so sehr. Da die Dublin III-Regelungen faktisch außer Kraft gesetzt wurden und die Flüchtlinge es nun bis nach Deutschland schaffen, war dies die einzige Möglichkeit des Staates, sich abzuschotten – und doch wieder auf die Regeln des Dubliner Übereinkommens zu verweisen. Nur: Von der Idee des Gemeinsamen europäischen Asylsystems, das seit 1998 geplant war,  ist nur noch ein Torso übrig. Die unterschiedlichen Standards in den EU-Mitgliedstaaten führen zwangsläufig zu einer Binnenmigration innerhalb der EU. Wenn ein Geflüchteter in Ungarn inhaftiert und in Bulgarien misshandelt wird, oder in Italien obdachlos oder arbeitslos wird, zieht er natürlich weiter – dorthin, wo er sich Schutz erhofft oder wo er Kontakte, Verwandte und Bekannte hat.  

Die Aussetzung von Schengen zeigt also, dass die EU nur kurzfristig denkt, wenn es um Flüchtlinge geht?

Die Aussetzung von Schengen ist nur ein Symbol dafür, was derzeit alles nicht stimmt in der EU. Es gibt noch immer keine legalen Zugangswege in die EU. Es gibt noch immer keinen gemeinsamen europäischen Schutzstandard für Flüchtlinge, der es erlaubt, nach der Flüchtlingsanerkennung in ein anderes EU-Land weiterzuziehen und Arbeit zu suchen. Europa steht meiner Ansicht am Scheideweg und muss sich fragen: Wollen wir ein soziales Europa, das Verantwortung übernimmt und fundamentale Menschenrechte gewährleistet? Oder wollen wir nur ein Europa, das eine utilitaristische Wirtschaftsgemeinschaft ist? Wenn sich dies nicht bald entscheidet, zerbricht die EU.

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