Inland

Innenansichten aus Hitler-Deutschland

von Helmut Lölhöffel · 20. September 2011
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Die Geschichte, wie dieses Werk ans Licht kam, ist kaum zu glauben. Der Justizinspektor Friedrich Kellner hatte seine während des Zweiten Weltkriegs aufgezeichneten Notizen in einem Geheimfach des Wohnzimmerschranks versteckt. Aus dem kamen sie erst 1968 ans Licht. Kellner gab sie seinem in den USA lebenden Enkelsohn. Der fand aber erst 1980 Zeit, sich damit zu befassen. Doch niemand sonst interessierte sich dafür, bis endlich 2005 ausgerechnet George W. Bush die Manuskripte in seiner Bibliothek ausstellen ließ. Und nun, sechs Jahre später, liegt das Werk endlich als Doppelband in Buchform vor.

NS-Verbrechen, die niemand sehen wollte

Kellners präzise Darstellungen des von 1939 bis 1945 Erlebten und Aufgelesenen sind ein einzigartiges zeithistorisches Dokument: Stimmungsbilder aus der deutschen Provinz vom ersten bis zum letzten Tag des Zweiten Weltkriegs. Wer die Kommentare dieses kleinen Mannes zum Zeitgeschehen liest, fragt sich immer wieder, wie es sein konnte, dass angeblich niemand von den Verbrechen des Nazi-Systems einschließlich der Judenvernichtung wusste.

Friedrich Kellner, 1885 geboren, wuchs in Mainz auf, ließ sich als Gerichtsschreiber ausbilden, war im Ersten Weltkrieg Soldat und wurde 1920 Justizinspektor. Er trat in die SPD ein und legte sich öffentlich mit den Nazis an. 1933 zog er in das oberhessische 1 800-Einwohner-Städtchen Laubach, wo er die Geschäftsstelle des Amtsgerichts leitete. In seiner Umgebung gab es fast nur bekennende und fanatische Nationalsozialisten. Mehr als 60 Prozent hatten 1932 in Laubach für die NSDAP gestimmt, nur 18 Prozent für die SPD.

Sozialdemokrat und Chronist

Früh hat Kellner sich "zu der Erkenntnis durchgerungen, daß dieses Regierungssystem von innen heraus überhaupt nicht zu beseitigen ist. … Hitler kann nur fallen durch einen verlorenen Krieg." Obwohl er ein isolierter Einzelkämpfer blieb, sich nicht dem Widerstand anschloss und auch den Kontakt zu anderen Sozialdemokraten mied, geriet er mehrmals in Gefahr.

Eines Tages beschloss Kellner, alle Ereignisse seines Umfelds zu dokumentieren. Er schrieb zehn Hefte voll: 669 datierte Einträge auf 861 Seiten, dazu klebte er 760 Zeitungsausschnitte ein. Akribisch, beinahe manisch sezierte er die amtlichen Mitteilungen, die veröffentlichten Reden und die Wehrmachtsberichte aus der gleichgeschalteten Presse, analysierte die Agitations- und Hetzkampagnen und wertete Alltagsmeldungen und Todesanzeigen aus. Das Hauptmotiv für seine subversive, aber rein interne und nicht nach außen wirkende Tätigkeit war seine demokratische Grundüberzeugung: "Die Zivilisation hängt von der Achtung des Rechtes ab."

Ungesühnte Verbrechen

Kellner, der weder Historiker noch Schriftsteller war, setzte am Schreibtisch aus Zeitungsausschnitten ein Gesamtbild des Alltags in Deutschland und des weltweiten Kriegs zusammen. Auf Bahnhöfen, in Geschäften, in Wartezimmern, im Gericht, in Nachbardörfern fing er Stimmen ein. Quellen waren auch Soldaten auf Urlaub. Einer berichtete am 28. Oktober 1941 er habe in Polen gesehen, wie jüdische Männer und Frauen nackt vor eine Grube getrieben und auf Befehl der SS von hinten erschossen wurden. Kellner folgerte: "Die Schandtaten werden niemals wieder ausgelöscht werden können."

Elf Tage vor dem Ende des Kriegs formulierte Friedrich Kellner sein Bekenntnis: "Unter Gerechtigkeit verstehe ich: Vergeltung und Bestrafung der Sünder. Der Nationalsozialismus muß mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden." Nach 1945 ist Kellner wieder aktives SPD-Mitglied geworden, bis zu seinem Tod. Aber seine Wünsche haben sich bis heute nicht erfüllt.

Friedrich Kellner: "Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne. Tagebücher 1939-1945", herausgegeben von Sascha Feuchert, Robert Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth, Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 2 Bände, 1128 Seiten, 59,90 Euro, ISBN 978-3-8353-0636-3

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Autor*in
Helmut Lölhöffel

lebt als freier Publizist in Berlin. Er war Redakteur beim Kölner Stadt-Anzeiger, bei ddp, der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Rundschau sowie Sprecher des Berliner Senats und Unternehmenssprecher.

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