Inland

Industrie 4.0 wird unsere Gesellschaft spürbar verändern

Nach Dampfmaschine, Fließband und Computer führt die Digitalisierung zur vierten Revolution in der Produktherstellung. Industrie 4.0 wird Wirtschaftsleben und Gesellschaft spürbar verändern
von Vera Rosigkeit · 23. April 2015
Industrie 4.0-Anlage
Industrie 4.0-Anlage

Sie bildet das Zentrum in Halle acht auf der Hannover Messe: die intelligente Fabrik von morgen, eine Industrie 4.0-Anlage, auch Smart Factory genannt. Aufgebaut in acht verschiedenen modularen Boxen wird in jedem Modul ein Produktionsschritt vollzogen. In Fertigungsmodul eins schickt ein Greifer die Grundplatte eines Visitenkartenhalters auf den Weg, im zweiten wird eine Gravur auf den Boden aufgebracht. In den folgenden Produktionsabschnitten werden eine Halterungsfeder angebracht, zwei Gehäuseteile montiert, mit Laserschriftsystem individuelle Gravuren auf den Deckel graviert. Bevor das fertige Produkt die Smart Factory verlässt, wird es auch noch eine Qualitätskontrolle durchlaufen haben. Erst dann ist eine vollständig automatisierte Fertigung abgeschlossen.

Alles wird vernetzt

Wie das möglich ist? Jeder zu fertigende Visitenkartenhalter enthält auf seiner Grundplatte einen RFID-Chip, einen digitalen Speicher, der den einzelnen Anlagemodulen die notwendigen Auftrags- und Produktionsdaten liefert. Diese Daten vermitteln den Maschinen, was sie zu tun haben. Soll das Gehäuse des Visitenkartenhalters blau oder grün sein? Welcher Text soll auf dem Deckel eingraviert werden? Oder wird vielleicht gar keine individuelle Gravur gewünscht? Dann kann dieser Fertigungsschritt auch weggelassen werden. Überhaupt lassen sich die verschiedenen Module in ihrer Reihenfolge verändern, ohne das die Produktion in den nicht betroffenen Anlagen unterbrochen wird. Denn nicht nur Chip und Maschinen, sondern auch die Maschinen selbst kommunizieren miteinander. Damit das funktioniert, mussten sich die an dieser intelligenten Fabrik beteiligten Hersteller auf standardisierte Schnittstellen verständigen , damit alle Maschinen mittels modernster Informationstechnologie miteinander vernetzt sind.

Die Smart Factory ist der Idealtyp der Produktion von morgen. In ihr kommunizieren Maschinen, Stoffe, Beschäftigte und auch Kunden miteinander. Das Internet der Dinge hält Einzug in die Fabrik. Eine zentrale Steuerung wird nicht mehr benötigt, die Fabrik ist wandelbar. Massenproduktion war gestern, massenindividuelle Produktion ist heute. Aufträge können kurzfristig geändert werden. Der Kunde steuert mit, durch eine Bestellung im Internet, die beispielsweise per Barcode direkt in den Produktionsprozess eingreifen kann. Optimiert wird der Produktionsprozess durch sich selbst steuernde Maschinen. Besonders deutsche Maschinen- und Anlagenbauer setzen dabei auf Sensoren, mit deren Hilfe Maschinen selbstständig melden, dass sie gewartet werden müssen, und zwar bevor es zu einem Produktionsausfall kommt. Beschäftigte werden ausgestattet mit Assistenzsystemen, wie beispielsweise Brillen mit Datenlesefunktion, die ihnen Informationen direkt in ihrem Blickfeld anzeigen und sie so durch Arbeitsprozesse führen.

Industrie 4.0 ist ein deutscher Markenbegriff

Nach Dampfmaschine, Fließband und Computerarbeitsplätzen läutet das, was wir in Deutschland Industrie 4.0 nennen, die vierte Revolution in der Produktion ein.
Industrie 4.0 ist zum Markenbegriff geworden, in diesem Jahr zum Kernthema auf der Hannover Messe. Sie ist auch Zukunftsprojekt der Bundesregierung, denn von der Verknüpfung digitaler Technologien mit industrieller Produktion wird nicht weniger erwartet als die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland.

Für Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist sie die zentrale Herausforderung für die wirtschaftlichen Perspektiven unseres Landes: „Früher haben einzelne technologische Innovationen wie Dampfmaschine und Elektrifizierung den Wandel geprägt, heute ist es ein ganzes Bündel an Treibern und Schlüsseltechnologien“, erklärte Gabriel.
Gemeinsam mit Bundesforschungsministerin Johanna Wanka startete er auf der Hannover Messe die Plattform Industrie 4.0, einen Zusammenschluss von Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Verbänden, Wissenschaft und Gewerkschaft, die den Wandel aktiv mitgestalten werden. Denn der werde zu tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft führen, etwa in der Organisation von Arbeitsprozessen, so Gabriel. Auch Geschäftsmodelle würden sich ändern. Früher wollte man ein Auto besitzen, heute möchte man mobil sein, sich zu unterschiedlichen Zwecken unterschiedlich fortbewegen. Dazu brauche man nur im Internet Plattformen aufsuchen, die einem diese Mobilität, etwa einen stundenweise zu mietenden PKW, zur Verfügung stellen.

Der Mensch kann Industrie 4.0

Es habe sich als richtig erwiesen, erklärte Gabriel, dass man um das Jahr 2000 nicht den „Unkenrufen“ gefolgt sei, die Industrie und das verarbeitende Gewerbe zugunsten von Dienstleistungen und Internet zu vernachlässigen. Länder, die diesen Aufrufen gefolgt seien, setzten sich heute das Ziel der Reindustrialisierung. „Wir hingegen haben eine starke industrielle Basis, doppelt so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Sie ist die industrielle Wertschöpfungsbasis unseres Landes“, sagte Gabriel. Nun gelte es die Herausforderung der Digitalisierung, der „datengetriebenen Ökonomie“, für die herausgehobene Stellung der deutschen Industrie zu nutzen. Politik müsse die digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft „nicht unreflektiert ohne Wenn und Aber vorantreiben, sondern mit Augenmaß begleiten“.

Zurück in Halle acht der Hannover Messe: Gegenüber dem Stand mit der Smart-Factory-Anlage steht die Soziologin Sabine Pfeiffer auf dem Podium. Ihr Thema: „Sind die Menschen reif für Industrie 4.0?“ Ihre These: In einer immer komplexer werdenden Ökonomie brauchen Beschäftigte immer komplexere Fähigkeiten. „67 Prozent unserer  Beschäftigten haben eine duale berufliche Qualifikation. 71 Prozent bewältigen heute schon ständigen Wandel, gehen um mit Unwägbarkeiten und Komplexität. Sie können in der Welt 4.0 gut agieren“, erklärt die Hochschulprofessorin der Universität Hohenheim. „Das ist ein einmaliges Potenzial und nicht kopierbar“, so Pfeiffer. Auch das sei ein Wettbewerbsvorteil für Deutschland. Ihr Fazit: „Der Mensch kann Industrie 4.0.“

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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