„Immer mehr Menschen sind mit den Exzessen des Kapitalismus unzufrieden“
Florian Gaertner/photothek.net
Vor kurzem hat Deutschland über die Äußerungen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert zur möglichen Kollektivierung von Großkonzernen diskutiert. Hat Sie die Heftigkeit der Debatte überrascht?
Überrascht hat mich vor allem, wie die Debatte abgedriftet ist. Die Äußerung von Kevin Kühnert gegenüber der „Zeit“ war ja eher eine allgemeine. Daraus entstanden ist eine Diskussion, als ob das Abendland vor dem Untergang stünde. Von manchen wurde sogar so getan, als wären Kühnerts Äußerungen offizielle SPD-Position und nächste Woche würden die Großkonzerne enteignet. Aus meiner Sicht wurden seine Vorschläge bewusst zur Polarisierung genutzt, obwohl gar nicht viel Substanzielles hinter ihnen stand.
Kühnert selbst hat von einer „reizvollen Utopie“ gesprochen und kritisiert, dass die Deutschen verlernt hätten, über Alternativen zum bestehenden Wirtschaftssystem nachzudenken. Stimmen Sie ihm zu?
Ich glaube, es geht weniger um das Wirtschaftssystem an sich als vielmehr um seine negativen Seiten. Es gibt eine zunehmende Anzahl von Menschen, die mit den Exzessen des Kapitalismus unzufrieden sind. Sie stellen fest, dass der Markt ihre Grundlage für ein auskömmliches Leben angreift – z.B. wenn die Mieten durch bestimmte Marktmechanismen derart steigen, dass sie sich das Wohnen in einigen Städten nicht mehr leisten können. Das ursprüngliche Versprechen des rheinischen Kapitalismus war Wohlstand für alle. Dieses Versprechen wird nicht mehr erfüllt.
In Berlin läuft zurzeit die Vorstufe für ein Volksbegehren, das zum Ziel hat, große Wohnungsunternehmen zu enteignen. Kann Enteignung ein Mittel sein, wenn der Markt versagt?
Klar ist, dass es ein massives Marktversagen im Bereich des Wohnens gibt, nicht nur in Berlin. Ich bin mir allerdings nicht sicher, dass Enteignungen dies korrigieren können. Das Problem ist vielmehr, dass in den Innenstädten zuerst zu wenig und danach falsch gebaut wurde, indem vor allem Luxuswohnungen errichtet wurden. Das ist eine Entwicklung, die durch die Enteignung von Wohnungskonzernen nicht korrigiert werden kann. Im schlimmsten Fall wird sogar das Gegenteil erreicht, wenn sich die Verwaltung mit der Überführung der privaten Wohnungen in Gemeineigentum beschäftigt, statt den Bau neuer Wohnungen zu planen und zu begleiten.
Gibt es überhaupt Bereiche, in denen Enteignungen sinnvoll sind?
Ja, durchaus. Wenn in einem Bereich Monopole bestehen, können sie mithilfe von Enteignungen zerschlagen oder vom Staat verwaltet werden. Allerdings sollte man so etwas immer im Einzelfall entscheiden und gut begründen, warum Marktversagen durch eine Vergemeinschaftung geheilt werden soll. Am Ende geht es schließlich auch um Steuergelder. Ob es uns besser gehen würde, wenn BMW, um noch einmal auf Kevin Kühnert zurückzukommen, vergesellschaftet wäre, wage ich zu bezweifeln.
Kürzlich haben Sie bei einer Konferenz gemeinsam mit Friedrich-Ebert-Stiftung und DGB über eine progressive Wirtschaftspolitik für das 21. Jahrhundert beraten. Wie sieht die aus?
Eine progressive Wirtschaftspolitik für die Zukunft hat dieselben Grundprinzipien wie vor 20 Jahren, auch wenn die Herausforderungen zum Teil andere sind. Es geht darum, möglichst vielen Menschen möglichst viel Selbstbestimmung zu geben. Dazu gehören auch ein auskömmliches Einkommen und eine gemeinschaftliche Absicherung gegen die großen Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter. Dafür brauchen wir Mitbestimmung der Beschäftigten und vernünftige Löhne.
Was bedeutet das für unser System der sozialen Marktwirtschaft?
Zunächst mal müssen wir Wege finden, wie die Menschen in einer sich verändernden Arbeitswelt sozialversichert bleiben und nicht durchs Rost fallen etwa weil sie in der Plattformökonomie arbeiten. Für eine halbwegs gleichberechtige Teilhabe am Wirtschaftsleben müssen zudem Strukturen geschaffen werden. Es muss gute Schulen geben, aber auch vernünftige Straßen und eine funktionierende IT-Infrastruktur. Wer reich ist, kann sich das alles kaufen. Wer nicht so viel Geld hat, ist darauf angewiesen, dass es der Staat zur Verfügung stellt. Deshalb ist Daseinsvorsorge ein sehr wichtiger Teil einer progressiven Wirtschaftspolitik.
Eine der drängendsten Herausforderungen zurzeit ist der Kampf gegen den Klimawandel. Welche Antworten muss eine progressive Wirtschaftspolitik da geben?
Zunächst mal die, dass Wirtschaftswachstum nicht automatisch mehr Ressourcenverbrauch bedeutet. Nehmen Sie z.B. den Bereich der Pflege. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird es hier einen riesigen Bedarf und somit einen wachsenden Markt geben. Wenn die Pflegekräfte vernünftig bezahlt werden, steigert das das Bruttoinlandsprodukt. Es bedeutet also Wirtschaftswachstum – und zwar annähernd CO2-neutral. Das sind Wachstumsfelder, auf die eine progressive Wirtschaftspolitik auch setzen sollte. Verknüpft mit technologischen Innovationen in den industriellen Bereichen, erreichen wir ein Wirtschaftswachstum, ohne dabei den Planeten zu zerstören.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.