Inland

Heimat: Warum sie für jeden etwas anderes bedeutet

„Heimat“ ist einer der am häufigsten benutzten Begriffe dieses Jahres. Doch so selbstverständlich er benutzt wird, so unklar ist oft, was er eigentlich meint. Eine Annäherung
von Michael Kniess · 28. Dezember 2017
Der Inbegriff von Heimat? Gartenzwerge gelten vielen als typisch deutsch.
Der Inbegriff von Heimat? Gartenzwerge gelten vielen als typisch deutsch.

In den Supermarktregalen finden sich Produkte, die versprechen „ein gutes Stück Heimat“ zu sein. Regionalkrimis und heimische Mundartmusik stehen hoch im Kurs. Im Fernsehen oder auf der Kinoleinwand sind moderne Heimatfilme äußerst erfolgreich. In der Wirtschaftswelt gilt der Verweis auf die heimatliche Herkunft als Qualitätsversprechen. Kurzum: Das heimatliche Lebensgefühl ist in. Doch Heimat kann auch hässlich und bedrohlich werden.

Die „Heimat“ hat wieder Konjunktur

„Heimat“ - der Begriff, den wir zusammen mit rührseligen Filmen, Trachten und Liedern aus längst vergangenen Tagen in die Mottenkiste der Geschichte stecken wollten, hat wieder Konjunktur. Derweil galt „Heimat“ insbesondere hierzulande lange Zeit als verbotenes Wort. „Heimat“ wurde zum nationalsozialistischen Kampfbegriff. Für die „deutsche Heimat“ zogen Soldaten in zwei Weltkriege. Übrig blieben viele Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und nicht zu überwindendes Leid erfahren mussten.

Erst Anfang der 1980er-Jahre wurde „Heimat“ im Kontext grün-alternativer Lebensmodelle wieder zu einem attraktiven Begriff für einen sozialen Nah- und Kulturraum, der als Ausgangspunkt der Weltveränderung begriffen wurde („global denken, lokal handeln“). Tendenz steigend: In einer vom Nachrichtenmagazin „Spiegel“ im Jahr 2012 in Auftrag gegebenen Umfrage gaben 64 Prozent von 1.000 Befragten an, dass für sie „Heimat“ im Zeitalter der Globalisierung eher an Bedeutung gewonnen hat. 1999 waren es lediglich 56 Prozent. Im Jahr 2004 erlangte das Wort „Heimat“ gar einen der Spitzenplätze, als der Deutsche Sprachrat „das schönste deutsche Wort“ suchte.

Der feste Halt fehlt

In der globalisierten Welt von heute, so scheint es, brauchen wir mehr denn je eine Verwurzelung, um zu wissen, woher wir kommen und um zu sehen, wohin wir gehen. Mit Zunahme der Modernisierung und Individualisierung vermehren sich persönliche Entscheidungsmöglichkeiten, jedoch auch Unsicherheit, Ungerechtigkeit und Unruhe. Soziokulturelle Milieus wie das konfessionelle lösen sich auf, traditionelle Bindungen (familiäre oder nachbarschaftliche) zerfallen, es fehlt fester Halt. Der über die Jahrzehnte angestaubte „Heimat“-Begriff hat auf diese Weise an neuer Bedeutung, aber auch an neuer Schärfe gewonnen.

„Heimat“ ist wieder zu einem Wert geworden: Als ein Ort, an dem man sich verlässlich sozial eingebunden fühlt. Als ein Ort, an dem man Dinge mitgestalten kann. Als ein Ort, an dem das, was man tut, Sinn und Bedeutung bekommt, weil einem Regeln und Zusammenhänge vertraut sind. Als ein Ort, an dem man Freunde und Familie hat, sozial verankert ist oder als ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, wo man sich auskennt, wo man sein möchte.

Die virtuelle Zweitheimat

Denn bei allen Chancen und Vorteilen, die mit der stets zunehmenden weltweiten Vernetzung und Ausdifferenzierung verbunden sind, ist die Welt für viele Menschen als Folge dieser Entwicklung doch auch immer unübersichtlicher geworden. Die heutige Berufswelt verlangt schier grenzenlose Mobilität und lässt dabei die eigene Heimat fremd werden oder gar abhanden kommen. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach ihr. In einer Welt, die einem den Boden unter den Füßen verlieren lässt, ist „Heimat“ wieder willkommen.

In der globalisierten Welt findet man als deren Ausdruck zahlreiche Heimat-Ersatzpunkte: An Bahnhöfen oder Flughäfen warten mit Lounges moderne Wartezimmer, die den Reisenden ein Stück weit die Heimatlosigkeit unterwegs nehmen wollen. Kaffeehaus- oder Gastronomieketten versprechen mit einem weltweit identischen Angebot und einer überall gleichen Einrichtung – egal ob in Berlin, Moskau oder Sydney – ein „Nachhausekommen“. Soziale Netzwerke dienen als virtuelle Zweitheimat. Auf Tassen, Taschen, T-Shirts, Fußabtretern und vielerlei mehr finden sich Liebesbekundungen an die Heimat, nach dem Motto „Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah“.

Die dunkle Seite des Heimatgefühls

Nicht immer hat „Heimat“ jedoch im positiven Sinne identitätserhaltende und sinnstiftende Aufgabe und Gestalt. Denn neben einer Verunsicherung verbreiten sich in Folge der zunehmend gefühlten Heimatlosigkeit auch Ängste, Sorgen oder Schlimmeres. Es ist die dunkle Seite des Heimatgefühls, das unverantwortlich verklärt, verkitscht, maßlos verglorifiziert oder ideologisch missbraucht wird. Diese gefährliche Form des Patriotismus macht sich eine weit verbreitete Mentalität des „Wir müssen zusammen und unter uns bleiben“ zu eigen.

Rechtes Gedankengut findet in dieser Gemengelage wieder eine neue Heimat, rechtsextreme Einstellungen sind wieder salonfähig geworden. Wir erleben das beim Zuspruch den die AfD oder die Pegida-Bewegung erfährt. Seit 2015 steigen die Fälle von rassistisch motivierter Gewalt in Deutschland erneut drastisch: Angriffe gegen Geflüchtete und deren Unterkünfte, Fälle von „Hasskriminalität“, eine Vielzahl an Bedrohungen gegenüber Abgeordneten, Bürgermeistern, Landräten oder freiwilligen Unterstützern von geflüchteten Menschen. Zudem zeugen rechtspopulistische Wahlkampfthemen von einem auch vorhandenen problematischen Heimatgefühl, das ausgrenzt, statt einzuladen.

„Heimat“ lässt sich nicht übersetzen

„Heimat“ muss stattdessen aber offen und einladend sein, sie muss anderen die Möglichkeit bieten, das eigene Heimische mitzubringen. Soweit dürften viele übereinstimmen. Bei der Frage danach, was sie nun ist und wo sie nun existiert, die „Heimat“, ist das weitaus schwieriger. Für den Begriff, der in all seinen Dimensionen kaum zu fassen ist, gibt es keine direkte Übersetzung in eine andere Sprache.

Philosophen suchen seit jeher nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was Heimat bedeutet. Selten ist eine Definition wirklich gelungen. Zu stark variierte die Bedeutung über die Jahrhunderte hinweg in unterschiedlichen Gegenden. Eine wirkliche Antwort muss wohl jeder für sich selbst finden. Vielleicht ist es die gemütliche Bank unter dem Obstbaum im Schrebergarten, der Bäcker ums Eck, der einen mit Namen grüßt und die Brötchentüte schon befüllt hat, wenn man an die Theke tritt, der Kaffeeklatsch mit den Freundinnen, ein freundliches Wort von einem lieben Menschen, ein Ort, an dem man sich nicht verstellen muss und angenommen wird, egal welche Hautfarbe oder Sexualität man hat, welcher Religion man angehört oder welche Sprache man spricht.

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