Hartz IV: SPD-Politiker weisen Jens Spahn in die Schranken
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Normalerweise gilt am Anfang einer großen Koalition so etwas wie „Friedenspflicht“. Die verantwortlichen Politiker bemühen sich, den jeweiligen Koalitionspartner nicht schon in der ersten Woche auf die Palme zu bringen. Sie halten sich mit Provokationen zurück, weil sie in den kommenden Jahren gut zusammenarbeiten wollen. Das gilt im Moment zwar auch für Union und SPD. Allerdings gibt es zwischen den beiden bereits jetzt den ersten Streit – dabei ist der Koalitionsvertrag gerade erst unterschrieben, das neue Kabinett noch nicht einmal vereidigt.
SPD: CDU muss mit Widerspruch rechnen
Der Grund für die Auseinandersetzung zwischen den neuen Groko-Partnern ist der CDU-Politiker Jens Spahn, der künftige Gesundheitsminister. In einem Interview mit der „Berliner Morgenpost“ sagte er am vergangenen Wochenende: „Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut.“ Mit Hartz IV habe jeder, „was er zum Leben braucht“, sagte Spahn.
Diese Äußerungen treffen bei den Sozialdemokraten auf Kritik. Einige SPD-Spitzenpolitiker haben nun dazu angesetzt, Spahn öffentlich in die Schranken zu weisen. Offenbar wollen sie noch vor dem offiziellen Amtsantritt der Groko klarmachen, dass Konservative wie Spahn in den kommenden Jahren mit Widerspruch aus der SPD rechnen müssen – und nicht schalten und walten können wie sie wollen.
Klingbeil: Spahn hat nicht richtig aufgepasst
Nach Spahn gefragt sagte etwa der kommissarische SPD-Chef und künftige Finanzminister Olaf Scholz im „Tagesthemen“-Interview: „Wir haben andere Vorstellungen, und das weiß auch jeder.“ Scholz glaubt sogar, „Spahn bedauert ein wenig, was er gesagt hat.“ Es ist eine offene Zurechtweisung – soll aber wohl auch heißen, dass Spahns Äußerungen nicht allzu ernst zu nehmen seien.
Auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil wies am Montag Spahns Hartz-IV-Aussage zurück – in einem ähnlichen Tonfall wie Scholz. „Herr Spahn hat bei den Koalitionsverhandlungen anscheinend nicht genug aufgepasst“, sagte Klingbeil im ZDF. „Es gibt einfach Bereiche, wo wir sehen: Trotz Hartz IV geht es den Menschen nicht gut, und da wollen wir ran.“
Stegner über Spahn: „völlig daneben“
SPD-Vize Ralf Stegner übte ebenfalls öffentliche Kritik. Im Gespräch mit der „Frankfurter Rundschau“ sagte er: „Die Unterschiede zwischen Arm und Reich haben so ein Ausmaß, dass man solche Äußerungen nicht machen kann, wie Spahn sie macht. Das ist völlig daneben, was er sagt.“
Für seine Hartz-IV-Thesen erntet Spahn auch von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden viel Kritik. „Wer solche Sätze von sich gibt, der hat eigentlich keine Ahnung von Armut“, sagte etwa Ulrich Schneider, der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, im WDR. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich in die Debatte eingeschaltet und der „Rheinischen Post“ gesagt: „Unser Ziel muss höher gesteckt sein, als dass die Menschen von Hartz IV oder anderen Transferleistungen leben.“
Gegenwind auch aus der CDU
Dass Spahns Sätze zu Hartz IV für so viel Aufregung sorgen, dürfte dem CDU-Politiker allerdings nicht unrecht sein. Um sich zu profilieren hat der Konservative auch in der Vergangenheit immer wieder auf provokante Aussagen gesetzt, zum Beispiel zum Thema Migration. Mit Erfolg: Immerhin macht Bundeskanzlerin Angela Merkel ihn nun zum neuen Gesundheitsminister – ein gewaltiger Karriereschritt für den CDU-Mann aus Nordrhein-Westfalen.
In der von ihm angestoßenen Hartz-IV-Debatte spürt Spahn nun jedoch auch Gegenwind in der eigenen Partei. So sagte Christian Bäumler von der „Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft“ im „Handelsblatt“, Spahn habe offenbar „den Bezug zur Lebenswirklichkeit verloren“ – eine ungewöhnlich scharfe Kritik, vor allem unter Parteifreunden. Auch die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer wies Spahn kürzlich öffentlich zurecht.
Wie lang hält die „Friedenspflicht“?
So zeigt sich anhand der aktuellen Hartz-IV-Debatte, wie dünn und zerbrechlich der parteiinterne Konsens der verschiedenen CDU-Flügel nach wie vor ist: Spahns Äußerungen, die offenbar als Provokation gegen die SPD gemeint waren, stoßen auch in der CDU auf heftigen Widerspruch. Im Gegensatz zum prominenten Provokateur und Merkel-Kritiker Spahn gibt es in der Union offenbar doch eine Reihe an Politikern, die wenigstens zu Beginn der Groko noch die „Friedenspflicht“ einhalten wollen.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.