Inland

Hartz IV hat zu massiven Verunsicherungen geführt

Dürfen Menschen, die 25 Jahre oder mehr in die Sozialversicherung eingezahlt haben, in Hartz IV rutschen? Müssen Bescheide vom Jobcenter 100 Seiten dick sein? Für Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe ist die Debatte über Hartz IV längst überfällig, denn das sei ein „absurder Zustand, den keiner mehr versteht“.
von Vera Rosigkeit · 26. November 2018
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Warum bekommt das Thema Hartz IV im Erneuerungsprozess der SPD eine große Bedeutung?

Die SPD ist die Partei der Arbeit und der sozialen Absicherung von Menschen. Der Sozialstaat muss uns besonders wichtig sein. Nur wenn der Sozialstaat vor Armut schützt, können sich auch diejenigen, die arbeiten, sicher sein, dass sie im Zweifel auf einen Staat vertrauen können, der ihnen zur Seite steht.

Können sie das mit Hartz IV nicht?

Wir leben nicht mehr in 2005. Wir haben eine deutlich niedrigere Arbeitslosigkeit, einen hohen Fachkräftebedarf und die Digitalisierung als große Herausforderung – es gibt viel zu tun, um den Sozialstaat auf die Höhe der Zeit bringen. Diese Debatte ist längst überfällig und ich freue mich, dass sie jetzt nach vorne geführt wird. 

Gibt es Vorschläge, was sich ändern muss?

Es gibt viele Diskussionen zum Thema, aktuell auch einen Beitrag von Andrea Nahles in der FAZ. Ich teile die Meinung, dass man gerade Familien mit Kindern stärker unterstützen muss, indem man eine Kinder-Grundsicherung einführt. Das ist für mich ein zentraler Punkt. Genauso wie das Einführen von Bagatellgrenzen. Es kann nicht sein, dass um drei Euro gestritten wird. Und das Thema „Weiße Ware“ sollten wir nochmal verstärkt in den Blick nehmen.

Was ist mit „Weißer Ware“ gemeint?

Im jetzigen System ist ein kleiner Betrag vorgesehen, den die Betroffenen zurücklegen sollen, um im Notfall z.B. eine neue Waschmaschine kaufen zu können. In der Praxis funktioniert das natürlich nicht, denn gerade Familien mit Kindern geben den äußerst knapp bemessenen Hartz IV-Regelsatz für Essen, Trinken und alltägliche Notwendigkeiten aus. Da brauchen wir eine sinnvollere Lösung.

Gibt es neben Familien noch eine Gruppe, für die sich dringend etwas ändern muss?

Sehr wichtig für mich ist die Anerkennung von Lebensleistung, auch weil ich als Abgeordnete aus Leipzig eine starke ostdeutsche Sicht habe.

Denn im Osten hat die Agenda 2010 die Menschen besonders verunsichert. Dort sind viele langjährig Beschäftigte aus der Arbeitslosenhilfe in das Hartz IV-System gerutscht. Diese Menschen haben lange gearbeitet, sind unverschuldet arbeitslos geworden und wurden gleichgestellt mit Menschen, die noch nie gearbeitet haben. Das hat zu massiven Kränkungen und Verunsicherungen geführt. Meine Schlussfolgerung daraus lautet, dass diejenigen, die 25 oder mehr Jahre in die Sozialversicherung eingezahlt haben, nicht in das Hartz IV-System rutschen dürfen. Wir müssen da eine Zwischenebene einführen.

Wie soll diese Zwischenebene aussehen?

Es muss oberhalb von Hartz IV eine Absicherung geben. Nicht zu unterschätzen ist allerdings auch die Bürokratie um Hartz IV, gerade wenn die Fälle etwas komplizierter werden.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wenn beispielsweise in einer Bedarfsgemeinschaft ein Kind lebt, das im Wechselmodell erzogen wird, explodieren die Bescheide. Der dickste Bescheid aus dem Jobcenter in Leipzig lag bei deutlich über 100 Seiten. Das wurde als Päckchen verschickt. Das ist ein absurder Zustand, den keiner mehr versteht. Der Umgang mit den Menschen muss dringend reformiert werden. So können sie den Sozialstaat nicht als Partner erleben, der sie unterstützt.

Nun taucht im Zuge der Debatte um eine Alternative zu Hartz IV immer wieder das Thema Grundeinkommen auf. Wie bewerten Sie das?

Ein Thema, das derzeit auch in der SPD-Bundestagsfraktion diskutiert wird, ist die Garantie auf ein Recht auf Arbeit. Für die SPD muss dieses Recht auf Teilhabe immer ein Ziel sein. Der Vorschlag zur Einführung eines solidarischen Grundeinkommens von Berlins Bürgermeister Michael Müller geht genau in diese Richtung. Es geht darum, nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit zu finanzieren.

Wir wollen den so genannten Passiv-Aktiv-Tausch ermöglichen. Statt passiv Sozialleistungen auszuzahlen und mit einem Ein-Euro-Job noch ein kleines bisschen oben drauf zu legen, sollen die Menschen einen echten Lohn erhalten. Denn aus Sicht der Betroffenen macht es sehr viel aus, ob sie einen Lohn für ihre geleistete Arbeit erhalten oder nur Leistungsempfänger nach Hartz IV plus Ein-Euro-Jobber sind. Arbeit ist mehr als Broterwerb, es geht vor allem um Anerkennung und Wertschätzung.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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