Inland

Grenzkontrollen: notwendig zum Durchatmen oder schädlich für Europa?

Die Wiedereinführung von Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze stößt auf ein geteiltes Echo. GdP-Vizechef Jörg Radek verteidigt sie als „dringend benötigte Atempause“. Für David Schrock, den Vorsitzenden der Jungen Europäische Föderalisten Deutschland, sind sie „eine Verzweiflungstat“. Ein Pro und Contra
von Jörg Radek, · 14. September 2015
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PRO

Jörg Radek: „Die Grenzkontrollen verschaffen allen Beteiligten bei Bund, Ländern und Kommunen womöglich die immer dringender benötigte Atempause.“

Mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen hat die Bundesregierung nach Auffassung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) kräftig an der Reißleine der inneren Sicherheit gezogen. Die unter Ausschöpfung aller verfassungsrechtlich möglichen Instrumentarien von Bundesinnenminister Thomas de Maizière verkündeten Sofortmaßnahmen verschaffen aber allen Beteiligten bei Bund, Ländern und Kommunen womöglich die immer dringender benötigte Atempause. Es muss ja zu einem geordneten und handhabbaren Verfahren bei der Aufnahme, Registrierung, Bescheidung und Verteilung von Flüchtlingen kommen.

Die Polizei hat keine Reserven

Meine Kolleginnen und Kollegen waren im Übrigen auch nicht begeistert davon, die Asylsuchenden en Gros durchzuwinken. Wenn die Polizei nicht mehr weiß, wer da überhaupt ins Land kommt, wird ein unter Umständen gravierendes Sicherheitsproblem provoziert.

Fakt ist aber auch, dass der jahrzehntelange Raubbau am Polizeipersonal die Dauer und Qualität dieser politischen Entscheidung beschränken wird. Wenn die Bundespolizei für die akute Grenzlage jetzt alle und jeden alarmiert, der noch einsatzfähig ist, so spricht das für sich. Reserven sind da keine mehr.

Verteilung der Asylsuchenden effizienter organisieren

Es muss aber auch den Schleppern, die die Menschen am Rand des Mittelmeeres in tödliche Nussschalen stopfen, endlich das Geschäft vermasselt werden. Zu den seit einem geschlagenen Jahr in Europa diskutierten Hotspots außerhalb der EU sollten sich die Politiker endlich durchringen. Wollen Sie etwa weiterhin Asylsuchende quasi dazu zwingen, sich Schleppern in die schmutzigen Hände zu begeben, um innerhalb der EU einen sicheren Hotspot zu erreichen?

Solche Hotspots können ohne weiteres auch in der Türkei und dem Libanon bei den Konsulaten und Botschaften eingerichtet werden. Durch die dortige echte Registrierung hätten die Sicherheitsbehörden dann auch mehr Zeit zu prüfen, wer da kommt, und die Verteilung der Asylsuchenden effizienter zu organisieren.

CONTRA

David Schrock: „Die deutschen Grenzkontrollen sind ein symbolischer Akt und eine Verzweiflungstat zugleich.“

Deutschland macht die Grenzen nach Österreich zu und das nicht, um Hooligans von seinen WM-Städten fern zu halten, sondern um unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen zu unterbinden. Noch vor zwei Wochen hätte sich das wohl niemand in Deutschland ernstlich vorstellen können. Es stellt sich die Frage: Handelt es sich um einen legitimen Vorgang oder um eine bisher beispiellose Einschränkung von Grundrechten seit dem Beginn der sukzessiven Etablierung der Reisefreiheit im Jahr 1985. 

In diesem Jahr werden wohl mindestens zweieinhalb Millionen Flüchtlinge in die EU kommen – dies wären 0,5 Prozent der gesamten Einwohnerzahl der EU von über 500 Millionen. Kaum einer wird behaupten können, dass die Europäische Union damit tatsächlich überfordert wäre, würde man eine an Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl orientierte Verteilung der Flüchtlinge vornehmen.

Das Dublin-Abkommen versagt auf ganzer Linie

Entscheidend ist also zweierlei: die Bewältigung der akuten Krise, indem die Flüchtlinge registriert werden, ihnen Unterkunft, Verpflegung und medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt werden. Zweitens muss die strukturelle Krise der Europäischen Union gelöst werden. In der Asylfrage hat sich das völlige Scheitern des in den letzten Jahren praktizierten Intergouvernementalismus gezeigt. Ein transnationales Problem kann nicht ohne zentral gesteuerte Problemlösungsautorität gelöst werden. Wenn Herr de Maizière nun also wieder Grenzkontrollen einführt, ist das aus Sicht der Bundesregierung angesichts der zunehmenden deutschen Überforderung nur konsequent und folgerichtig. Das Dublin-Abkommen liest sich in der Theorie gut, ist aber nur dann brauchbar, wenn die Zahl der Flüchtlinge auf einem für den einzelnen Nationalstaat handhabbaren Niveau wäre und bliebe. Im Stresstest versagt es gerade auf ganzer Linie.

Die deutschen Grenzkontrollen sind daher ein symbolischer Akt und eine Verzweiflungstat zugleich. Sie werden die in den letzten Jahren zu beobachtetende Renationalisierung nur weiter fördern und in der Bevölkerung den Eindruck verstärken: „Wir müssen uns einigeln, gemeinsam mit den anderen EU-Staaten geht es nicht.“

„Mehr Europa“ heißt die Lösung

Dabei liegt die offensichtliche Lösung in „mehr Europa“.  Würden sich die Innen- und Justizminister noch heute auf einheitliche Verteilungs- und Asylmindeststandards festlegen, indem man klärt, wer Asyl beantragen darf, wie lange ein Verfahren dauern darf und auf welche Art und Weise die Flüchtlinge in die Gesellschaft integriert werden, wenn keine Aussicht auf eine Rückkehr in ihre Heimatländer besteht, wäre die Krise morgen beendet.

Betreten machen einen „Angebote“ wie die der slowakischen Regierung, die 200 (!) Flüchtlinge aufnehmen möchte, aber bitte nur, wenn es Christen sind. Das allerorten mitschwingende „Wir helfen gerne, aber bitte keinen Muslimen“ ist eine Bankrotterklärung bisher ungekannten Ausmaßes aller europäischen Regierungen. Wo sind denn unsere überlegenen Werte angesichts von Krieg und Elend, das von einzelnen Mitgliedsstaaten durch Destabilisierung des Nahen Ostens tatkräftig mit verursacht wurde (Stichwort Irakkrieg und Koalition der Willigen)?

Unsere Antwort kann doch nicht sein, dass wir einfach unsere Grenzen und die Augen verschließen, uns aber weiter als Hüter der Aufklärung auf die staubige Brust schlagen. Statt sich feige und ängstlich hinter Zäumen und Grenzen zu verschanzen, müssten wir uns vielleicht einmal wieder vor Augen führen, dass die Werte von Recht und Gesetz sowie Toleranz und Religionsfreiheit durch Überzeugung und Diskurs zum Leben erweckt und am Leben erhalten werden und nicht durch Abschottung.

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Autor*in
Jörg Radek
Jörg Radek,

ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei.

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