Inland

Gleiche Chancen für alle?

von Dorle Gelbhaar · 29. März 2012

Strategien einer chancengerechten Bildungspolitik sollten diskutiert werden. Im Nachbarschaftsladen „Initiative Buttmann 16“ im Berliner Bezirk Wedding erzählten die Rapper Mustafa und Aiman am 27. März von ihren Erfahrungen mit dem deutschen Bildungssystem.

Mustafa und Aiman gehören zu den Porträtierten im von Klaus Wowereit und Franziska Richter herausgegebenen Buch „Ich wär gern einer von uns. Geschichten übers Ein- und Aufsteigen“. Zur Einstimmung in den Abend trägt der Schauspieler Nadim Jarrar (Heimathafen Neukölln) aus dem Buch vor. Das Gehörte spricht an, macht nachdenklich. In den kurzen Auszügen erfährt man eine Menge über das Leben von Aiman und Mustafa.

Migranten im deutschen Bildungssystem

Die beiden Rapper tragen einen Titel vor: „Jahrelang verloren“ heißt er. Das ist wörtlich zu nehmen. Die beiden Freunde sind auf die schiefe Bahn geraten. Insbesondere Aiman hat nicht geschafft, was er sich vorgenommen hatte. Zweimal zu spät gekommen, schon sei er die Ausbildung los gewesen – noch während der Probezeit. Dabei habe er, um den Ausbildungsplatz zu bekommen, ein ganzes Jahr als Praktikant geackert. Das erzählt er als Gast auf dem Podium.

Er erzählt auch von Erfahrungen mit Lehrenden, die nicht motivieren, sondern mitunter sogar durch herabsetzende Äußerungen demotivieren. Eine typisch migrantische Erfahrung? Ein Jugendlicher aus dem Publikum betont, dass nicht nur Jugendliche mit Migrationshintergrund Herabwürdigung erleben: Er sei von einem Lehrer gemobbt worden und habe gerade deshalb beweisen wollen, was er könne, und er hat es auch geschafft.

Die Suche nach den besonderen Fähigkeiten

Regina Danielmeier kümmert sich schon seit 1987 um Jugendliche mit Migrationshintergrund. Bis 2002 unterrichtete sie im Schulprojekt Stadt als Schule, das Auslaufen des Projektes bedauert sie sehr. Doch sie arbeitet weiterhin an einer Schule und befasst sich mit Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft. Die Jugendlichen, die an diesem Abend in den Nachbarschaftsladen gekommen sind, glauben ihr, dass sie engagiert ist.

Auch die Leiterin des Projektes „Gangway e, V.“ ist gekommen, um über Chancengleichheit im Bildungsbereich zu sprechen. Gangway ist eng vernetzt mit dem Nachbarschaftsladen, unterstützt die Arbeit. Man setze sich auseinander mit den jungen Leuten in der Straßensozialarbeit, höre ihnen zu und suche nach ihren Fähigkeiten. – Eine Schlüsselfrage.

Mehrsprachigkeit als Vorteil erkennen

Was halten die jungen Leute selbst für die Werte ihres Lebens? Ein bisschen Glück wünschen sie sich. Mustafa hat eine Frau und einen kleinen Sohn. Die Familie bedeutet viel. Alles vielleicht sogar? Warum engagieren sich die Familien nicht mehr bei der Lösung schulischer Probleme? Warum erkundigt man sich vielfach nicht einmal nach dem Stand der eigenen Kinder in der Schule? Über Ursachen wird spekuliert, die Angst vor Rügen durch Lehrkräfte ins Spiel gebracht. Aber das bleibt Spekulation. Die Elternschaft ist offenbar nicht vertreten.

Ein Problem immerhin ist greifbar in den schlechteren Deutsch-Kenntnissen der Elterngeneration, von denen mehrfach die Rede ist. Die Moderatorin Shally Kupferberg fragt, ob es richtig wäre, wenn postuliert würde, zuerst Deutsch zu lernen. Eine Sprache überhaupt wirklich gut zu beherrschen. Das wäre es doch. Aber was wäre der Vorschlag, um dem schulischen Alltag gerecht zu werden? Wie sähe eine Bildungsstrategie aus, die die Mehrsprachigkeit als etwas Positives einbezieht? Welche Forderungen kämen auf Lehrkräfte zu und auf Schulprojekte? Einfach die Dinge laufen lassen, dürfte nicht hilfreich sein. Die jungen Leute selbst empfinden es durchaus als selbstverständlich, dass sie Deutsch gut beherrschen.

Dazugehörigkeit bei der Behörde beantragen

Sie sind nicht dumm, die jungen Leute, die an diesem Abend stellvertretend für viele Jugendliche mit Migrationshintergrund zur Diskussion gekommen sind. Sie verweigern sich auch der Integration nicht. Ganz im Gegenteil. Deutschland ist ihre Heimat und sie möchten, dass ihre Mitmenschen das begreifen. Es ist demütigend, wenn ein in Deutschland Geborener alle paar Monate sein Dazugehörigsein neu beantragen muss wie Aiman. Es muss sich vieles ändern. Die einfache Zweiteilung in Opfer und Täter greift zu kurz, das wird im Gespräch deutlich. Nicht selten sind beide Rollen in ein- und derselben Person vereint.

Die Frage nach den Strategien einer gerechten Bildungspolitik bleibt an diesem Abend in der Beschreibung der Ist-Situation stecken, so recht nicht beantwortet und eigentlich auch nicht konsequent gestellt und hinterfragt. Vielleicht hätte auch eine Lehrerin (oder ein Lehrer) an der Podiumsdiskussion teilnehmen sollen. Vielleicht ist es auch so, dass die Situation der mangelnden sozialen Durchlässigkeit im Bildungssystem (die nicht ausschließlich aber doch verstärkt Jugendliche mit Migrationshintergrund trifft) bekannt ist, aber die Strategien, die wirklich greifen, fehlen.

 

Klaus Wowereit und Franziska Richter (Hg.): „Ich wär gern einer von uns. Geschichten übers Ein- und Aufsteigen“, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2011, 163 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-8012-0409-9

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Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

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