Inland

Genscher warnt vor deutschen Alleingängen

von Carl-Friedrich Höck · 2. November 2012

Einen ungewöhnlichen Gast begrüßte SPD-Chef Sigmar Gabriel am Donnerstagabend in der SPD-Parteizentrale. Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) hielt eine Rede zur Verantwortung der Deutschen in Europa und betonte: „An Deutschland darf Europa nicht scheitern.“

Die Stuhlreihen im Willy-Brandt-Haus waren bis auf den letzten Platz gefüllt, als SPD-Chef Sigmar Gabriel das Rednerpult betrat, um seinen Gast zu begrüßen. Dessen Auftritt war Teil der Veranstaltungsreihe „Reden zu Deutschland und Europa“. Sie solle dazu beitragen, ein Manko der europäischen Politik zu beheben, sagte Gabriel. Die dauerhafte Krisenpolitik sei von Atemlosigkeit geprägt. Eine Demokratie brauche aber Zeit und Raum für Diskussionen, um „nachzudenken und, besser noch, vorzudenken“.

Der Euro-Krise kann Gabriel sogar etwas Gutes abgewinnen: Die EU werde nicht mehr als irgendetwas Fernes in Brüssel angesehen. „Zum ersten Mal diskutiert eine europäische Öffentlichkeit zur gleichen Zeit das gleiche Thema.“ Lange Zeit sei die EU mit wohlwollendem Desinteresse betrachtet worden. Nun komme es darauf an, ob daraus ein wohlwollendes Interesse wird oder ein ablehnendes.

Genscher: „Wenn es um Europa geht, stehen wir zusammen“

Dass Freidemokraten in der Parteizentrale der SPD einen prominenten Auftritt erhalten, kommt selten vor. Doch gleich zu Beginn seiner Rede stellte Genscher klar: „Wenn es um die Einheit des freien Europa geht, stehen alle demokratischen Parteien in diesem Land zusammen. Hier darf es keine Unklarheiten und keine Zweideutigkeiten geben.“ Europa sei die Absage an deutsche Vorherrschaftsträume und Alleingänge der Vergangenheit. „Dabei muss es bleiben“, betonte Genscher.

Der ehemalige Außenminister erinnerte an die Anfänge der EU. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei das Projekt auch eine Einladung der europäischen Nachbarn an die Deutschen gewesen, in die demokratische Völkergemeinschaft Europas zurückzukehren. Nun müsse Deutschland seine Politik so gestalten, „dass die anderen Völker Deutschland auch als Unterpfand des eigenen Glücks empfinden können.“

Die Lage in Griechenland sei ein Testfall, wie europafähig die Deutschen sind, sagte Genscher. Dies habe noch nicht jeder verstanden. „Wer aussteigen oder andere ausschließen will, macht alles zunichte.“

Warnung vor einer zweiten Dolchstoßlegende

Vehement wehrte sich Genscher gegen die Legende, die europäische Währungsunion sei für Deutschland der Preis für die Wiedervereinigung gewesen. Diese Behauptung habe eine zersetzende Wirkung für Europa, ähnlich wie die Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg. Tatsächlich habe es im Jahr 1988 zwei Gründe für die Währungsunion gegeben. Zum einen habe nach der Einführung des gemeinsamen Binnenmarktes die Gefahr bestanden, dass einzelnen Länder den Wettbewerb manipulieren, indem sie ihre Währung abwerten. Der Euro habe dies verhindert, wovon Deutschland profitiert habe. Zum anderen sei die Einführung des Euros aus deutscher Sicht ein wichtiger Integrationsschritt gewesen, um die Festlegung auf das gemeinsame Projekt Europa zu bekräftigen.

„Wir Europäer sind nicht allein auf dieser Welt“, warnte Genscher. Länder wie China oder Indien seien als neue Kraftzentren hinzugetreten. Nur gemeinsam könnten die europäischen Länder auch in Zukunft die Welt mitgestalten. „An Deutschland darf Europa nicht scheitern“, rief Genscher dem Publikum zu. Andernfalls werde es für das Land in der Mitte Europas eiskalt.

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Carl-Friedrich Höck

arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.

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