Am Sonntag finden in Thüringen Kommunalwahlen statt. Die SDP-Mitbegründerin Sabine Heideler berichtet aus der thüringischen Provinz von einer depressiven Grundstimmung gegenüber der Politik. Demokratie verkomme immer mehr zu einer Worthülse.
Das Titelblatt der Kahlaer Nachrichten vom 29. März 2012 zeigt ein Farbfoto des Kahlaer Stadtmuseums und trägt folgenden Vermerk: 2. Frühlingsmarkt 1. April 2012 / 10.00 – 17.00 Uhr im Museumshof. Schlägt man die Zeitung auf, so sieht man unter „Nachrichten aus dem Rathaus“ eine halbseitige Anzeige: „Das erwartet Sie: Kulinarisches... Handwerkliches... Käufliches... Unterhaltsames... Für Kinder...“. Unter anderem werden Souvenirs, Bücher, Olitäten unter der Überschrift „Käufliches“ aufgeführt.
Halten wir fest: Auf dem 2. Frühlingsmarkt in Kahla werden Bücher verkauft. Da kein Veranstalter des Frühlingsmarktes ausgewiesen ist, die Information aber direkt unter „Nachrichten aus dem Rathaus“ platziert wurde und ich laut Aussage der Mitarbeiterin des Stadtmuseums den Bürgermeister fragen musste, ob ich das Buch „Nichts muss bleiben, wie es ist“ dort anbieten darf, ziehe ich den Schluss, dass die Stadt Kahla Veranstalter dieses Marktes ist.
Politische Bücher sind nicht gewollt
„Was ist das denn für ein Buch?“, war die Frage des Bürgermeisters, auf die ich Rede und Antwort stehen musste. Nach einer kurzen Bedenkzeit fiel seine Entscheidung, welche mir von einer Mitarbeiterin übermittelt wurde. Ein politisches Buch ist auf dem 2. Frühjahrsmarkt in Kahla nicht gewollt.
Zweiundzwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution ist jene Zeit und die Auseinandersetzung mit der DDR immer noch ein Tabu. Die Thematik ist offensichtlich so brisant, dass ein Buch darüber „nicht gewollt ist“ und die vermeintliche Idylle eines Frühlingsmarktes bedroht.
Kahla hat mehrere Schulen, darunter auch ein Gymnasium. Der Bürgermeister war bis zu seiner Wahl Lehrer in der DDR. Welchen Bildungsauftrag hat er heute? Das Stadtmuseum, das in seiner Amtszeit aufgebaut wurde, verweist auf die Geschehnisse vor und nach 1989 mit einem einzigen Satz. Das Schicksal der jüdischen Bürger Kahlas zwischen 1933 und 1945 findet überhaupt keine Erwähnung.
Besser keine Meinung äußern
Mein Eindruck ist, dass sich viele Menschen noch nicht von den psychologischen Folgen zweier Diktaturen befreit haben. Amtsmissbrauch und das widerspruchslose Hinnehmen von Amtsmissbrauch sind dadurch möglich. Es ist besser, seine Meinung nicht laut zu sagen, ist eine weit verbreitete Grundhaltung.
Die Konsequenzen, welche auf eine freie Meinungsäußerung folgen können, sind schwer abzuschätzen und meist gefürchtet. Dass sie Chance für eine Entwicklung sein können, wird meist gar nicht in Betracht gezogen. Ängste, in vielen Fällen unbewusst und unreflektiert, bestimmen somit das Verhalten. „Die da oben, machen sowieso, was sie wollen. Das ist heute nicht anders, als in der DDR“, ist eine verbreitete, depressive Grundstimmung, welche durch die Realität viel zu oft neue Nahrung erhält.
Demokratie ist eine Worthülse, die nicht gelebt werden kann, wenn Menschen Angst haben und die Erfahrung machen, dass sie nicht gehört werden, wenn sie ihre Meinung äußern. Die Entscheidung eines Bürgermeisters, dass ich auf einem städtischen Markt ein Buch mit politischem Inhalt nicht präsentieren „darf“, ist eine Amtsanmaßung, die nicht unwidersprochen bleiben darf.
Demokratie in Gefahr
Aber auch ich war in der Versuchung, dies widerspruchslos hinzunehmen, bis mir bewusst geworden ist, dass es sich um Amtsmissbrauch handelt. Wenn freie politische Meinungsäußerung durch Wahlbeamte, Mandatsträger oder einen ähnlichen Personenkreis unterdrückt wird, werden Grundrechte verwehrt und die Demokratie ist in Gefahr.
Sich solcher Strukturen bewusst zu werden, reicht aber nicht aus. Es bedarf einer unabhängigen, kritischen Medienlandschaft, um gegensätzliche oder kritische Inhalte überhaupt transportieren zu können. Doch die hier existierende Medienlandschaft wird dieser Aufgabe nicht gerecht.
Wenn wir in einer gelebten und nicht in einer gespielten Demokratie leben wollen, brauchen wir Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen und sich für die Organisation des Gemeinwesens nach ihren Vorstellungen einsetzen, sowie eine freie Medienlandschaft, welche die aktuelle Politik kritisch begleitet und die Diskussion darüber, wie wir leben wollen, in ihrer Vielfältigkeit abbildet.
War Mitbegründerin der SDP und von 7. Oktober bis zur Parteienvereinigung im September 1990 im Vorstand der SDP.