Geflüchtete aus der Ukraine: Berlin als Seismograf für Deutschland?
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Neu ist das Trio, das am Donnerstagabend im Bundeskanzleramt den Journalist*innen Rede und Antwort steht, nicht. Bundeskanzler Olaf Scholz, Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst sitzen in dieser Konstellation nicht zum ersten Mal vor den Kameras.
Trotzdem ist einiges anders – und das liegt nicht nur daran, dass der CDU-Politiker Wüst aufgrund von Isolation und Covid-Infektion aus einem Hotel in Israel zugeschaltet ist. In der Ministerpräsidentenkonferenz, in den vergangenen Monaten eher der Ort für neue Corona-Maßnahmen, wurde erstmals auch über die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine gesprochen.
Flucht aus der Ukraine: Schon 200.000 in Deutschland
Schätzungen zufolge sind bis Freitag bereits rund 200.000 Menschen vor dem Krieg in die Bundesrepublik geflüchtet. Ministerpräsident*innen und Bundesregierung einigten sich am Donnerstag auf eine schnelle und unkomplizierte Aufnahme, die Geflüchteten sollen aber auch zügig registriert und nach dem „Königsteiner Schlüssel“ verteilt werden. Sie sollen ebenso möglichst schnell gesundheitlich versorgt werden – das Angebot einer Corona-Schutzimpfung inklusive. Über die Finanzierung dieser Aufgaben will man sich bis Anfang April verständigen. Man wolle es richtig machen, verteidigte Scholz das Zeitfenster.
Seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine ist Berlin, vor allem der Hauptbahnhof im Zentrum und der Busbahnhof im Westen, zum Knotenpunkt geworden. Viele Ukrainer*innen erreichen die Hauptstadt in Bussen und Zügen. Die Rede ist von Tausenden pro Tag. Helfer*innen nehmen Kinder und Jugendliche, Mütter und ältere Menschen in Empfang, Montag bis Sonntag, Tag und Nacht.
SPD-Mitglied und Helfer Christian Hörbelt berichtet von belastenden Situationen vor Ort.
„Wir sind im Moment in der Situation, dass wir in die Zukunft schauen können, wie es bald in den anderen Bundesländern aussehen wird“, meint Bürgermeisterin Giffey über die Situation in Berlin. Die Sozialdemokratin bat bereits um Unterstützung vom Bund, bekommen hat sie diese inzwischen von der Bundeswehr. 80 Soldat*innen wurden ihr von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zugesagt.
Aufnahme von Geflüchteten: Aus 2015 gelernt
Aus der Flüchtlingssituation im Jahr 2015 habe man gelernt, versichert Giffey. Damals war sie noch Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln, die in Teilen chaotische Situation bei der Aufnahme der Geflüchteten aus Syrien dürften ihr damit noch präsent sein. Allerdings: Die Situation sei jetzt eine andere, betont Giffey am Donnerstag. Dennoch ist sie sich sicher: „Wir können die Erfahrungen nutzen.“ Man habe gute Voraussetzungen, es diesmal besser zu machen.
Einige Unterschiede liegen auf der Hand: Der Fluchtweg aus der Ukraine ist kürzer als der aus Syrien. Und anders als 2015 nehmen derzeit die osteuropäischen Länder, allen voran Polen, aktuell in großem Umfang die benachbarten Ukrainier*innen auf. Medienberichten zufolge sind bereits rund zwei Millionen in Polen untergekommen. Schätzungen zufolge kommen derzeit aber mehr Menschen in kürzerer Zeit: Insgesamt sind laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schon rund rund Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet. In den Jahren 2015 und 2016 baten jeweils rund 1,3 Millionen um Asyl in Europa, verteilt über Wochen und Monate.
Anders als vor sieben Jahren werden aktuell offenbar viel mehr Menschen zunächst privat aufgenommen, auch in Berlin. „Wir schätzen, etwa zwei Drittel“, sagt Giffey. Bedeutet: Vorerst muss nur jede dritte Person in öffentlichen Einrichtungen untergebracht werden. Dafür steht in Berlin übergangsweise auch das leerstehende Flughafenterminal Tegel zur Verfügung. Eine Dauerlösung sei das jedoch nicht. Doch auch die anderen zwei Drittel dürften früher oder später wieder bei den Berliner Behörden um Unterkunft bitten, sollte der Krieg länger andauern. „Darauf müssen wir uns einstellen“, sagt Giffey jedenfalls. Denn die Menschen, die vorübergehend ukrainische Familien beherbergen, wollten ihre Wohnung irgendwann wieder für sich haben, vermutet sie.
Geflüchtete hoffen auf schnelle Rückkehr
Viele Ukrainer*innen hofften außerdem, dass sie schnell wieder in ihre Heimat zurückkehren können. „Es ist aber nicht klar, wann das möglich ist“, bedauert Giffey. Deswegen setze man von Anfang an auf Integration. „Dafür stellen wir jetzt die Weichen“, sagt sie mit Verweis auf den Beschluss der Ministerpräsident*innen. Geflüchtete aus der Ukraine sollten möglichst schnell Plätze in Kitas und Schulen bekommen, außerdem Sprachkurse und weitere Unterstützungsangebote bis hin zur Vermittlung von Arbeit. Anders als bei laufenden Asylverfahren dürfen die Ukrainer*innen direkt arbeiten, sie erhalten zunächst eine Aufenthaltserlaubnis in der EU für ein Jahr, die auch noch verlängert werden kann.
Bundeskanzler Olaf Scholz pflichtet Giffey am Donnerstag in Sachen Integration bei: „Wir dürfen nicht den Fehler wiederholen, dass am Anfang alles darauf gesetzt wird, dass das nur vorübergehend ist.“ Eine Integrationsperspektive sei niemals falsch. „Wenn sie wieder zurückgehen können, ist das wunderbar, aber dann hat es auch nicht geschadet, wenn sie hier die Zeit für sich nutzen konnten“, sagt Giffey am Donnerstag über die Geflüchteten auf die Frage eines Journalisten.