Gemeinsam mit Gewerkschaften wie verdi fordert die SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier, dass die gesetzlichen Arbeitnehmerrechte auch für Beschäftigte im kirchlichen Bereich uneingeschränkt gelten müssen. Immer wieder setzt sie sich auch kritisch mit dem Finanzgebaren der Kirchen auseinander.
vorwärts: Frau Matthäus-Maier, fangen wir an mit konkreten Beispielen: Königswinter, eine kleine Stadt bei Bonn, hat in den letzten Monaten für Schlagzeilen weit über das Rheinland hinaus gesorgt. Dort gab es einen katholischen Kindergarten. Die Stadt hat der Kirche gekündigt. Was war dort passiert?
Matthäus-Maier: Die Leiterin des Kindergartens hat nach zwanzig Jahren ihren Mann verlassen und ist zu einem neuen Partner gezogen. Die katholische Kirche verurteilte das als schweren Verstoß gegen die von ihr geforderte Lebensführung nach der Glaubens- und Sittenlehre der katholischen Kirche und hat ihr gekündigt. Die Kindergarteneltern haben sich dagegen heftig gewehrt, da diese Erzieherin hervorragend gearbeitet hat und sehr beliebt war. Als dann noch bekannt wurde, dass die Kirche keinen einzigen Euro zu den Kindergartenkosten beitrug, ging eine Welle der Empörung durch die Öffentlichkeit: Null Prozent Finanzierung durch die Kirche, aber 100 Prozent Hoheit über die private Lebensführung der dort Beschäftigten! Das dürfe wohl nicht sein! Auf Bitten der Eltern und Antrag der SPD beschloss der Stadtrat, den Vertrag mit der Kirche zu kündigen. Es gibt jetzt einen neuen Träger. Der Kindergarten wird zur Zufriedenheit aller Beteiligten von der vorher gekündigten Erzieherin geleitet.
Wenige Kilometer weiter, in Köln, wurde einer mutmaßlich vergewaltigten Frau in zwei katholischen Krankenhäusern die Hilfe verweigert. Darf es sein, dass für solche Kliniken gesetzliche Sonderrechte gelten? Wie sieht das die einstige Verwaltungsrichterin?
Ich persönlich halte dieses skandalöse Verhalten für strafbare unterlassene Hilfeleistung. Auch hier das gleiche Thema: Kirchliche Krankenhäuser werden nicht etwa aus der Kirchensteuer finanziert – wie die meisten Menschen glauben. Die Investitionen zahlt der Staat nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz, die laufenden Kosten der Behandlung werden durch Beiträge der Versicherten über die Krankenkassen oder Zusatzbeiträge bezahlt. Damit ist es völlig unvereinbar, dass einer vergewaltigten Frau die Hilfe verweigert wird. Übrigens: ich würde das Verhalten der dort Beschäftigten auch dann für einen schweren Verstoß gegen das Prinzip der Barmherzigkeit halten, wenn die Finanzierung anders wäre. Das hat die Kirche wohl selbst gemerkt. Denn schließlich hat Kardinal Meissner sich entschuldigt und jetzt die „Pille danach“ zugelassen. Damit hat er die Notbremse gezogen, denn in der Öffentlichkeit wurde die Forderung laut, den katholischen Kliniken die gynäkologischen Abteilungen zu entziehen.
Wer im kirchlichen Bereich arbeitet, das gilt besonders für die katholische Kirche, muss damit rechnen, dass seine oder ihre ganz private Lebensführung zu Kündigungen führen kann. Königswinter ist ja kein Einzelfall. Wie passt das zu unseren Gesetzen und zu einer modernen Demokratie?
Die Eingriffe der Kirchen und ihrer Einrichtungen wie Caritas und Diakonie in die private Lebensführung ihrer rund 1,3 Millionen Beschäftigten passen nicht in die moderne Demokratie. Sie verstoßen auch gegen Grund- und Menschenrechte: Zum Beispiel gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Artikel 3 Grundgesetz, wie das Bundesarbeitsgericht im Falle der Kündigung eines Chefarztes in einem katholischen Krankenhaus wegen Wiederverheiratung als Geschiedener entschieden hat. Oder die Diskriminierung Homosexueller. Oder sie verstoßen gegen das Recht auf Streik nach Artikel 9 GG, wie mehrere Landesarbeitsgerichte und das Bundesarbeitsgericht entschieden haben.
Oder gegen die Menschenrechtskonvention, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, als einem Organisten nach 14 Jahren untadeliger Arbeit wegen Ehebruch gekündigt wurde. Dieser Mann musste sich 13 Jahre lang durch 7 (!) Instanzen quälen, bevor er Recht bekam. Und dann der dauernde Verstoß gegen die Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG, wenn zum Beispiel Krankenschwestern oder Pfleger in kirchlichen Krankenhäusern aus der Kirche austreten und dann gekündigt werden. Oder als Konfessionslose oder Muslime erst gar nicht hineinkommen. Das Arbeitsgericht in Aachen hat erst im letzten September die katholische Kirche wegen Diskriminierung zu einem Schadensersatz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz verurteilt, weil sie einen Pfleger wegen Konfessionslosigkeit nicht eingestellt hat.
Wie argumentieren die Kirchen?
Sie berufen sich auf das sogenannte Selbstbestimmungsrecht nach Artikel 137 Weimarer Verfassung. Dort steht aber nur, dass Religionsgesellschaften ihre Abgelegenheiten selbständig „ordnen“ und „verwalten“. Und das auch nur „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.
„Tendenzbetriebe“ gibt es nicht nur im kirchlichen Raum. Ich nehme an, auch die SPD könnte sich von einem Mitarbeiter trennen, der in eine Konkurrenzpartei eingetreten ist. Wie weit muss man also im Arbeitsrecht auch den Kirchen Sonderregeln zugestehen?
Selbstverständlich soll auch für die Kirchen und ihre Einrichtungen der „Tendenzschutz“ nach dem Betriebsverfassungsgesetz gelten. Aber doch nur für sogenannte Tendenzträger wie zum Beispiel Pfarrer oder Diakone, die unmittelbar an der Verkündigung beteiligt sind. Dafür brauchen sie nicht die komplette Nichtanwendung des Betriebsverfassungsgesetzes nach § 118, Absatz 2. Dieser Absatz ist erst 1952 unter der Adenauer-Regierung eingeführt worden. Der kann ohne weiteres gestrichen werden. Dann gilt auch für die Kirchen der Tendenzschutz nach Absatz 1 mit Loyalitätspflichten für das engere Führungspersonal.
So ist das auch bei AWO und Paritätischem Wohlfahrtsverband. Es ist doch geradezu absurd, dass bei den Kirchen für das ganze Personal inklusive Putzfrau, technisches Personal, Laborkräfte wichtige arbeitsrechtliche Schutzrechte und Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Und wenn – wie zum Beispiel im Rheinland – weit über die Hälfte der Krankenhäuser kirchlich sind, dann führt das eben dazu, dass bei der Berufsberatung eine Mitarbeiterin jungen Muslimen, die sich für eine Ausbildung im pflegerischen Bereich interessieren, davon abrät, weil sie in der Gegend hier keine Arbeitsstelle finden würden!!
Nun wird immer wieder argumentiert: Wer die kirchlichen Regeln nicht akzeptieren möchte, der kann sich andere Träger suchen, zum Beispiel kommunale. Ist das aber so einfach für konfessionslose Eltern, die einen Kindergartenplatz suchen oder für Beschäftigte, die sich den strengen Regeln nicht mehr unterwerfen möchten?
In vielen Gegenden finden Sie überhaupt keine nichtkonfessionellen bzw. städtischen Kindergärten. Mein Mann und ich haben das selbst erlebt, dass unsere Kinder im katholischen Kindergarten in Königswinter nicht aufgenommen wurden, weil wir und die Kinder nicht in der Kirche waren. Das ist nun wirklich toll: Mit meinen Lohn- und Einkommensteuerzahlungen als Konfessionsfreie bezahlt die Stadt den katholischen Kindergarten fast oder ganz komplett mit der Folge, dass man danach seiner Kinder nicht hineinbekommt.
Woran liegt es eigentlich, dass Kommunen und Bundesländer immer mehr Aufgaben an kirchliche Träger abgeben?
In Nordrhein-Westfalen liegt es zum Beispiel daran, dass die Kommunen vom Land für einen Kindergarten in kirchlicher Trägerschaft einen höheren Zuschuss erhalten (88 Prozent) als für einen städtischen (79 Prozent). Und das mit dem Hinweis darauf, dass „während die Kommunen grundsätzlich auf planbare Einnahmen aus ihrem Steueraufkommen zugreifen können, die Kirchen auf das Kirchensteuereinkommen angewiesen sind.“ Angesichts der finanziellen Lage vieler Kommunen einerseits und dem stetigen Wachstum des Kirchensteuereinkommens andererseits (zur Zeit etwa neun Milliarden Euro pro Jahr) eine geradezu abenteuerliche Begründung!
Und das gilt auch für Krankenhäuser. Jüngstes Beispiel aus Wilhelmshaven: Das städtische Klinikum soll mit dem kirchlichen zusammengelegt werden. Die kirchliche Einrichtung soll nur 20 bis 30 % übernehmen. Dafür darf das neue Krankenhaus keine legalen Schwangerschaftsabbrüche mehr vornehmen. Und das in einer Stadt, in der nur 12 % der Bevölkerung katholisch sind.
Oder Ostdeutschland. Dort werden immer wieder städtische Kliniken an Kirchen gegeben. Ab sofort gilt dann dort das Betriebsverfassungsgesetz nicht mehr. Von den Mitarbeitern wird offen oder versteckt erwartet, dass sie in die Kirche eintreten. Ich nenne so etwas „Zwangsmissionierung“. Das ist Heuchelei, wie auch die Kirchen wissen, denn die Mitarbeiter treten in die Kirche ein, um einen Arbeitsplatz zu bekommen oder ihren Arbeitsplatz zu erhalten.
Auch Bürger, die vieles kritisch sehen – etwa die vom Staat eingezogene Kirchensteuer – argumentieren, mit diesem Geld würde doch Segensreiches finanziert, wovon alle in Deutschland lebenden Menschen profitieren. Kann man das so stehen lassen?
Den Kirchen ist es gelungen, diesen Irrglauben zu verbreiten. Dabei steht fest, dass die Kirchensteuer nur zu einem Bruchteil von unter 5 % für soziale Zwecke ausgegeben wird. Der frühere Caritasdirektor und Finanzdirektor der Erzdiözese Köln, Norbert Feldhoff, hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die Kirche die Kirchensteuer nicht benötigt, um die Sozialarbeit zu finanzieren.
Sie setzen sich schon seit den 70er Jahren für eine strenge Trennung zwischen Kirche und Staat ein. Was waren und sind Ihre Forderungen?
Religionsgemeinschaften als Arbeitgeber im sozialen Bereich dürfen nicht in die private Lebensführung ihrer Angestellten eingreifen. Es ist nicht einzusehen, weshalb für kirchliche Einrichtungen andere Bestimmungen gelten sollten als etwa für die Arbeiterwohlfahrt. Der besondere Tendenzschutz ist also aufzuheben. Mittelfristig sind Bund, Länder und Gemeinden aufgefordert, für ein weltanschaulich neutrales Angebot sozialer Dienstleistungen zu sorgen. Die sozialen Institutionen bilden noch immer die weltanschauliche Situation der 50er Jahre ab. Heute sind aber 37 % der Menschen konfessionsfrei, 58 % Mitglieder einer der beiden christlichen Kirchen. Die klerikale Bevormundung muss also endlich aufhören.
Ingrid Matthäus-Maier ist langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete, Vorstandssprecherin der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Mitglied der Giordano Bruno Stiftung und Sprecherin der Kampagne „Gerdia“ („Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz“). Sie hat sich während ihres ganzen politischen Lebens für die Trennung von Kirche und Staat eingesetzt.
(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.