Gastkommentar: Hilft mehr Überwachung gegen Terrorismus?
Thomas Trutschel/photothek.net
Am 19. Dezember gegen 20 Uhr fuhr Anis Amri mit einem Lkw in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Bei dem Attentat starben 12 Menschen, 50 weitere wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Es war der erste größere islamistische Anschlag in Deutschland. Mit diesem Attentat ist auch hierzulande eine traurige europäische Realität eingekehrt – ein Leben mit dem Terrorismus.
Hilft mehr Überwachung gegen „Gefährder"?
In der deutschen Politik findet seitdem ein lautstark ausgetragener Wettbewerb der innenpolitischen Forderungen statt. In Berlin bietet auch meine eigene Partei mit Forderungen nach mehr Videoüberwachung mit. Auf einmal möchte man am liebsten die gesamte Stadt mit Kameras zukleistern und dauerhaft filmen. Auf Bundesebene feiert gerade die Fußfessel ein ungeahntes politisches Comeback. So wollen Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Bundesjustizminister Heiko Maas sogenannte Gefährder per Fußfessel überwachen. Was genau sie unter einem Gefährder verstehen, erläutern sie leider nicht. Ein weiterer Vorschlag ist die Einführung von Transitzonen. Hier sollen Geflüchtete, bevor sie Deutschland betreten dürfen, in Lager gebracht werden, bis ihr Aufenthaltsstatus geklärt ist. Forderungen, die bis vor Kurzem noch in der Nähe der AfD angesiedelt waren, sind innerhalb weniger Wochen bis weit ins linke Lager hinein salonfähig geworden.
Auf den ersten Blick wirkt es, als sei die deutsche Politik sich einig und deshalb handlungsfähig. Doch wenn man die Forderungen etwas genauer unter die Lupe nimmt, dann erkennt man ein überfordertes System: als Antwort auf den Terrorismus noch mehr Überwachung zu fordern, ist Ausdruck purer Ratlosigkeit.
Terrorismus ist hausgemacht
Dazu muss man sich einmal Entstehen und Wesen des europäischen Terrorismus anschauen. Der Terrorismus ist nämlich in aller Regel nichts, was wir aus dem Ausland importieren, er ist vielmehr hausgemacht. Das ist für uns alle schwierig zu akzeptieren, aber wir müssen uns mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Bislang war es nicht so, dass Menschen aus Syrien oder Tunesien eingereist sind, um Anschläge zu verüben. Vielmehr sind es Europäer, Einheimische, die zu Hause zuschlagen.
Salah Abdeslam, der mutmaßliche Attentäter von Paris, hat die französische Staatsbürgerschaft. Er wurde in Brüssel geboren und ist dort aufgewachsen. Drei der vier identifizierten Attentäter vom März 2016 in Brüssel waren Belgier, geboren und aufgewachsen in Belgien. Die Täter, die im Januar 2015 den Anschlag auf die Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo verübten, waren Franzosen, in Frankreich geboren und aufgewachsen. Der Anschlag in Berlin, der durch einen Tunesier verübt wurde, ist aus europäischer Perspektive nicht die Regel, sondern eine Ausnahme.
Attentäter waren vorab bekannt
In allen Fällen waren die Attentäter den Behörden auch längst bekannt. Anders als bei einem Amoklauf nehmen die Täter vorher Kontakt mit anderen auf, die ihnen ideologisch verbunden sind. Sie radikalisieren sich auch nicht innerhalb weniger Tage, sondern meist ist das ein jahrelanger Prozess. Und sie tun dies nicht alleine zu Hause in ihrem Zimmer, sondern meist öffentlich mit anderen zusammen. Die deutschen Behörden hatten Anis Amri bekanntlich längst auf dem Radar. Auch die Attentäter von Paris, Brüssel und Nizza waren den Sicherheitsbehörden bekannt. Man muss also zu dem Schluss kommen, dass wir kein Defizit bei der Überwachung haben, aber bei der Erkennung wirklicher Gefährder.
Die deutsche Bevölkerung reagiert auf die gestiegene Gefahr vergleichsweise ruhig. Zwei Tage nach dem Anschlag sind die Menschen in Berlin wieder auf die Weihnachtsmärkte geströmt. Im aktuellen Deutschlandtrend geben 73 Prozent der Befragten an, sich in Deutschland sicher zu fühlen. Dieses Gefühl kommt in der hilflos wirkenden politischen Debatte in Deutschland gar nicht vor.
Wichtigste Instrumente gegen Terror: Prävention und Integration
Dabei sind noch gar nicht alle Mittel ausgeschöpft, die politisch zur Verfügung stehen, um die Bevölkerung zu schützen. Die wichtigsten Instrumente gegen Terror, nämlich Prävention und Integration, werden nicht einmal erwähnt, aus Sorge vielleicht, es klinge zu sehr nach Multikulti und Kuschelkurs. Denn die Forderung ist natürlich deutlich weniger plakativ und durchdringend, als es die Inszenierung eines vermeintlich starken Staates ist.
Doch wer mit Geflüchteten zusammenarbeitet, der weiß, dass wir aktuell vor großen Integrationsproblemen stehen. Unter den Geflüchteten begegnen mir oft Menschen, die ein eigenständiges Leben anstreben. Menschen, die sich, im positiven Sinne, möglichst schnell der helfenden Hand des Staates entledigen wollen. Und ich erlebe einen Staat, der diesen Menschen immer wieder Steine in den Weg der Selbstbestimmung legt. Die Jobcenter weigern sich, auch nur ein Wort auf Englisch zu erklären, und die ersten Monate verbringen viele Geflüchtete vor allem mit Papierkrieg auf Ämtern. Die Konsequenz daraus ist, dass die Geflüchteten sich den Behörden geradezu ausgeliefert fühlen. Während sie übrigens vielfach immer noch in überfüllten Turnhallen leben und trotz großer Ankündigungen seitens der Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen haben. Obwohl sie Schulabschlüsse haben, schaffen es nur die allerwenigsten, zu studieren oder mit einer Ausbildung zu beginnen.
Die Integration der Geflüchteten droht zu scheitern. Welche Konsequenzen eine Nicht-Integration für unsere Sicherheit haben kann, zeigen uns sehr klar Belgien und Frankreich. Selbst die schärfsten Überwachungsma nahmen können dieses Versäumnis am Ende nicht kompensieren.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in „Die Zeit“
ist Mitglied in der Netz- und Medienpolitischen Kommission beim SPD-Parteivorstand und Vorsitzender der SPD Alexanderplatz.