Gaspreis: Eine Öffnung von Nordstream 2 würde das Problem nicht lösen
Am Montag wurde planmäßig mit der Wartung von Nord Stream begonnen. Seitdem fließt kein Gas aus Russland mehr durch die Pipeline nach Deutschland. Wie groß ist Ihre Sorge, dass es nach Ende der Wartung so bleibt?
Diese Wartung findet jährlich etwa zur selben Zeit statt. In den vergangenen Jahren ist sie immer planmäßig zu Ende gebracht worden. In diesem Jahr müssen wir aber mit allen Szenarien rechnen. Russland hat sich leider seit dem Angriff auf die Ukraine als rational handelnder Partner aus dem Gasgeschäft verabschiedet – sei es die Forderung der Rubelzahlung oder die Einstellung der Gaslieferungen an Polen und Bulgarien. Mit alldem im Hinterkopf, müssen wir leider mit dem Risiko rechnen, dass die Gaslieferungen durch Nord Stream nicht wieder aufgenommen werden.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist es ohnehin das erklärte Ziel der Bundesregierung, unabhängig von Gasimporten aus Russland zu werden. Wie kann das auf absehbare Zeit gelingen?
Die Bundesregierung hat sehr beherzt und schnell Entscheidungen getroffen, die Diversifizierung der Gasversorgung umzusetzen. Wir führen ja schon seit Jahren Diskussionen über LNG-Terminals in Deutschland. Es ist gut, dass sie nun kommen. Ich rechne damit, dass in diesem Winter das erste Terminal in Wilhelmshaven in Betrieb genommen werden kann. Die nächsten werden dann im Laufe des kommenden Jahres folgen. Das ist für Deutschland ein beeindruckendes Tempo, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das nicht ausreichen wird, die russischen Gasmengen komplett zu ersetzen. Neben den vier schwimmenden Terminals, die geplant sind, müssen wir weitere, stationäre Terminals entwickeln – auch, um die Brücke in die Zukunft zu schlagen, denn beim Erdgas hört es ja nicht auf. Die Zukunft gehört eindeutig dem Wasserstoff.
Reichen die Flüssigerdgas-Terminals denn aus oder braucht es noch weitere Möglichkeiten der Gasversorgung?
Rechnerisch reichen die LNG-Kapazitäten aus, um den deutschen Gasbedarf zu decken. Aber natürlich gibt es Unsicherheiten, wenn die Verbräuche variieren. Letztlich hängt es vom Preis ab. Die schon jetzt höheren Preise werden dazu führen, dass die Industrie, aber auch private Verbraucher spürbar weniger Gas verbrauchen werden. Wir sehen da ein Potenzial von Einsparungen bis zu 20 Prozent. Dem zuwider läuft der Anspruch der Energiewende: Wenn wir wie geplant aus der Kohle aussteigen wollen, braucht es Gaskraftwerke als Brücke, bis der Ausbau der Erneuerbaren Energien so weit ist, dass wir nahezu komplett auf fossile Energieträger verzichten können.
Erdgas ist lange als Brücke hin zu den Erneuerbaren gesehen worden. Wie tragfähig ist diese Brücke noch?
Wir dürfen die Diskussion über das Erdgas nicht allein auf die Lieferungen aus Russland beschränken. Der Energieträger ist weiter da und wird auch in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle spielen. Weil Gas leicht zu transportieren und im Vergleich zur Kohle ein CO2-armer Energieträger ist. Entscheidend wird sein, andere Quellen zu erschließen – durchaus auch in Deutschland. Auch ohne über Fracking zu sprechen, ist klar, dass in unseren Böden noch einige Schätze schlummern, die wir heben sollten.
Wo sehen Sie da noch Potenzial?
Im Moment werden zu wenige Entscheidungen für neue, konventionelle Bohrungen in Deutschland getroffen. Ähnlich wie bei den Erneuerbaren Energien sollten wir auch hier Genehmigungsverfahren beschleunigen. Für die Gasförderung in Deutschland ist es heute viel zu kompliziert, neue Verfahren zu starten.
Die Deutungen, warum die Gaspreise zurzeit so exorbitant steigen, gehen auseinander. Woran liegt es aus Ihrer Sicht?
In Kontinental-Europa sind nahezu alle Import-Kapazitäten vollständig ausgelastet. Das führt dazu, dass wir in Deutschland ein deutlich höheres Preisniveau haben als etwa in Großbritannien, wo sehr viel LNG importiert wird. Die Briten zahlen zurzeit deutlich weniger für ihr Gas als wir, weil sie deutlich freiere und offenere Zugänge haben. Das zeigt, dass sich Investitionen in LNG-Terminals lohnen. In Deutschland konzentriert sich die Debatte aus meiner Sicht immer noch zu sehr auf die Frage: Kommt das russische Gas oder kommt es nicht. Dabei müssten wir deutlich mehr Facetten betrachten, wenn es um die Versorgungsicherheit geht. Klar ist: Nord Stream 2 zu öffnen, wie es ja von einigen gefordert wird, ist keine Lösung. Das ist vermutlich genau das Kalkül, das Putin verfolgt. Russland hat genügend Exportkapazitäten auch über andere Pipelines, die es nicht nutzt. Eine Öffnung von Nord Stream 2 würde deshalb das gegenwärtige Problem nicht lösen.
Zum Teil wird bereits über mögliche Gas-Rationierungen im Herbst und Winter gesprochen. Wie würden die ablaufen?
Die Gas-Knappheit macht sich ja jetzt schon bemerkbar an den hohen Preisen. Auch das führt bereits zu einer gewissen Rationierung. Irgendwann wird ein Punkt erreicht sein, an dem die Preise so hoch sind und der Markt zu verzerrt ist, dass „von oben“ rationiert werden muss. Das macht die Bundesnetzagentur wie es im „Notfallplan Gas“ der Bundesregierung vorgesehen ist, wenn die Notfallstufe ausgerufen wird. Die Bundesnetzagentur tritt als sogenannter Bundeslastverteiler auf, d.h. sie schaltet nach einer Reihenfolge, die sie sich überlegen muss, Gas-Verbraucher ab. Zuerst kommt die Industrie dran, dann Kraftwerke und erst am Ende der Bereich der besonders geschützten Kunden. Dazu zählen dann auch die privaten Verbraucher sowie wesentliche öffentlichen Einrichtungen. Die Sorge, dass die Heizungen in Deutschland plötzlich kalt werden, muss also niemand haben. Meine Sorge ist eher, dass es ein sehr teurer Winter werden wird.
Wo sehen Sie Möglichkeiten, Gas einzusparen?
40 Prozent des Gases werden in der Industrie verbraucht. Insofern sehe ich dort auch das größte Einsparpotenzial. Darüber hinaus kann ich mir auch vorstellen, dass es durchaus Eingriffe ins öffentliche Leben geben wird, vergleichbar mit den autofreien Sonntagen in den 70er Jahren. Bestimmte öffentliche Gebäude könnten unter Umständen nicht mehr geheizt werden. Und auch die Erfahrungen des Homeoffice, die wir während der Corona-Pandemie gemacht haben, könnten für den kommenden Winter hilfreich sein.
Im Moment ist das wichtigste Ziel, die Gasspeicher für den kommenden Winter zu füllen. Ab welchem Stand können wir beruhigt sein?
Ich halte die Zielgrößen von 80 Prozent bis Oktober und 90 Prozent bis November für richtig, bin aber skeptisch, dass wir sie wirklich erreichen werden. Russland hat ja bereits in den vergangenen Wochen seine Gaszufuhr deutlich zurückgefahren. Die Speicher füllen sich deshalb nicht mehr so schnell wie sie sollten. Wenn es so weitergeht, sind wir in den Händen des Wettergottes: Am Ende entscheidet dann die Frage, ob es ein kalter oder ein warmer Winter wird, darüber, ob der Füllstand der Gasspeicher ausreicht oder nicht.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.